Gemischtes Doppel

Die beiden wichtigsten Politiker Europas stehen für völlig gegensätzlichen Stil und jede Menge Differenzen. Dabei haben Angela Merkel und Nicolas Sarkozy mehr gemeinsam, als sie selber ahnen.

Die meisten Franzosen erinnern sich genau, wann sie ihren Präsidenten zum ersten Mal gesehen haben. Das war im Jahr 1993. Ein Mann, der sich »Human Bomb« nannte, hatte sich Sprengstoff um seinen Körper gebunden, war im noblen Pariser Vorort Neuilly in einen Kindergarten gestürmt, hatte dort 21 Kinder und ihre Erzieherin als Geiseln genommen und stellte wirre Forderungen. Zwei Tage lang war das Gebäude umstellt von verzweifelten Eltern, ratlosen Polizisten, Reportern und den Fernsehkameras der Nation. Dann bot sich der junge Bürgermeister von Neuilly zum Austausch für die Kinder an und ging hinein. Er fragte den Geiselnehmer, was mit ihm los sei und was um Himmels willen man für ihn tun könne.

Eine halbe Stunde später kam Nicolas Sarkozy, so hieß der junge Bürgermeister, aus dem Gebäude, ein Kind auf dem Arm, ein anderes an der Hand, ein drittes klammerte sich ängstlich an sein Hosenbein. Nach und nach holte er alle Kinder und die Erzieherin raus. Dann schickte er – und das gehört eben auch zu dieser Geschichte – die Polizei rein, die den Mann erschoss. Wahrscheinlich ist es zwischen Bürgern und ihren Politikern wie in jeder anderen Beziehung auch: In der ersten Begegnung ist wie in einem Hologramm das Zukunftsmuster erkennbar. Dieser Nicolas Sarkozy war offenbar risikobereit, mutig, überzeugungsfähig. Und knallhart.

In Deutschland können die meisten Menschen sich nicht mehr genau erinnern, wann ihnen eigentlich Angela Merkel zum ersten Mal in den Abendnachrichten aufgefallen ist. Irgendwann, bald nach der Wende, muss sie doch schon da gewesen sein als Pressesprecherin von Lothar de Maizière. Oder war es später, 1991, als Helmut Kohl ein Ministerium zerschlug, um drei seiner Mädchen eine Ministerchance zu geben: Gerda Hasselfeldt, Hannelore Rönsch und Angela Merkel. Noch später? 1993 als Landesvorsitzende der CDU in Mecklenburg? Oder erst 1994, als sie als Umweltministerin Riesenärger mit undichten Castorbehältern hatte?

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Das 'Gemischte Doppel' als Memory-Spiel

Angela Merkel war einfach da. Sie wurde immer wichtiger und immer mächtiger. Leise, vorsichtig, nie auftrumpfend, immer unterschätzt von Freund und Feind, immer von dieser Unterschätzung profitierend.

Nicolas Sarkozy und Angela Merkel. Das ungarisch-jüdisch-griechische Einwandererkind und das Mädchen aus dem Osten. Man würde ja zu gern mal lauschen, wie diese beiden sich unterhalten, wenn die Mikrofone ausgeschaltet sind in Lissabon, Paris oder Berlin. Was man aus der Entfernung sieht und kennt, ist: Sie busseln sich, sie knuffeln sich, sie duzen sich, sie schäkern miteinander. Die Zeiten der onkelsteifen Chirac-Handküsse sind vorbei.

Sie nennen sich bei den Vornamen, Nicolas und Angela. Sie sind fast gleich alt. Sie haben in vielen Punkten gemeinsame Ziele, Orientierungen und Glaubenssätze. Innenpolitik. Europa. Amerika. Vor allem aber haben sie eine erstaunliche Schnittmenge biografischer Ähnlichkeiten. Und vielleicht lässt sich genau damit auch erklären, warum es ausgerechnet diese beiden sind, die Deutschland und Frankreich, den Kern Europas, ins 21. Jahrhundert führen.

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Auf den ersten Blick aber sieht man nichts als Gegensätze. Größere Unterschiede im politischen Temperament sind gar nicht denkbar: Speedy Sarko, der kleine Mann mit dem leichten Gehfehler und dieser stürmischen, immer etwas lächerlichen Hoppla-jetzt-komm-ich-Pose. Impulsiv und risikofreudig setzt er sich und die Welt ständig mit neuen Ideen unter Strom. Kein Mensch weiß nach diesem ersten halben Jahr, was seine normale Betriebstemperatur ist und ob es so etwas überhaupt gibt.

Angela Merkel dagegen: immer besonnen und vorsichtig in ihrer maliziösen Ruhe und mütterlichen Ironie, mit der sie schon ganz andere sanft vom Pferd gehoben hat. Wenn er sich im Interview mit der New York Times zu selbst für französische Verhältnisse gewagtem Pathos hinreißen lässt und sagt, Frankreich müsse die Welt erleuchten, dann bekommt er von ihr ein: »Ohne mich, Nicolas. Ich bin eine Energiesparlampe.«

Es ist kein größerer Unterschied denkbar im Auftritt, in der Show und der Zurschaustellung des Privaten. Sarkozy trägt Rolex, liebt dicke Zigarren und speist mit seinen Millionärsfreunden vor bestellten Fotografen in der berühmten Brasserie »Le Fouquet’s«, wo sie für ihn eigene silberne Serviettenringe bereithalten, mit Gravur. Er erlaubte der Theaterautorin Yasmina Reza, ihn im Wahlkampf ganz nah zu begleiten und in einem Buch zu beschreiben. Er sagte: »Selbst wenn Sie mich demolieren, kann es meinen Ruf nur mehren. Durch Sie werde ich unsterblich.« Zusammen haben sie Harry Potter vom Platz eins der Bestsellerliste gestürzt. Und für alle Franzosen, die 1993 noch zu jung waren, wird jetzt auch die
Human-Bomb-Geschichte verfilmt.

Alle Szenen seiner Ehe hat Sarkozy als großes Kino inszeniert, atemberaubend öffentlich, dick, laut und honigsüß. Wie sie sich kennengelernt haben 1984. Vor dem Traualtar! Sie war schwanger und heiratete den 24 Jahre älteren Fernsehstar Jacques Martin. Er war der Bürgermeister von Neuilly. Er hat sie getraut, obwohl er auf den ersten Blick wusste: Diese Frau ist für mich.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie: Warum Sarkozys Mutter sagt, dass ihr Sohn cholerisch ist - und Merkels Mutter zu allem eisern schweigt.)

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Die Hochglanzfotos der Sarkozys mit seinen beiden schönen blonden Söhnen und ihren beiden schönen blonden Töchtern, den gemeinsamen Sohn Louis unterm Schreibtisch spielend, waren ikonografisch gezielt gesetzt zwischen alten Gemälden französischer Königsfamilien und den berühmten Schwarz-Weiß-Fotografien der Kennedys. Und noch als es, wie man heute weiß, eigentlich schon aus war mit dem Traumpaar, sagte er: »Sie haben Jacky Kennedy geliebt, sie werden Cécilia Sarkozy zu Füßen liegen.«

Die Brioni-und-Cohiba-Phase, mit der Gerhard Schröder in seiner ersten Re-gierungsperiode ausprobierte, was in Deutschland geht und was nicht, war dagegen lachhaft brav und bieder. Man würde das alles ja auch gar nicht glauben, wäre es nicht gerade eben erst passiert im Nachbarland. Sarkozys Mutter erklärt es in Interviews so: »Er ist cholerisch, hat viel gekämpft mit seinen Brüdern. Aber vor allem hat er vor überhaupt nichts Angst.«

Angela Merkels Mutter sagt den Medien gar nichts. Die Journalisten haben es aufgegeben, nach Templin zu pilgern. Es gibt keine Show, keine Soap, nichts Privates. Durch beharrliche Verweigerung hat Angela Merkel es sogar geschafft, dass die Medien sich nicht mehr für ihren Mann interessieren, obwohl der Biografiedienst Munzinger neuerdings schreibt, dass der Quantenchemiker Joachim Sauer Chancen auf den Nobelpreis habe.

Merkel hat ihre Ehe einmal so erklärt: »Er erwartet nichts von mir, was mit der Politik-Profession nicht vereinbar wäre. Und ich weiß genau, dass auch Wissenschaft den ganzen Menschen fordert, und tue das umgekehrt auch nicht.« Es scheint, dass die beiden gut klarkommen damit.

Wenn Cécilia Sarkozy also nicht zu früh vom Damenprogramm in Heiligendamm verschwunden wäre, weil sie plötzlich den zwanzigsten Geburtstag ihrer Tochter ausrichten musste, hätte Professor Sauer ihr Folgendes erklären können: Es gibt auch die Möglichkeit, sich dem Durchlauferhitzer einer Ereignisdemokratie zu widersetzen und als Ehepartner einen eigenen Weg zu finden, der am Ende von allen respektiert und von manchen sogar bewundert wird.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie: Vom Kloster nach Sylt)

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Um sich klarzumachen, was im letzten halben Jahr in Frankreich passiert ist, muss man die Sache nur einmal umdrehen: Angela Merkel hätte also vor der Wahl angekündigt, nach dem Sieg eine Weile im Kloster zu verschwinden, um über Deutschland nachzudenken. Dann aber hätte sie sich auf der vor Sylt kreuzenden Sechzig-Meter-Yacht einer befreundeten Industriellen bewundern lassen. Dann würde sie bei den europäischen Finanzministern einrauschen, um für ihre geplanten Steuererleichterungen mal eben die Regeln des Stabilitätspakts außer Kraft zu setzen. Zwischendurch schickt sie ihren Professor Sauer mit der Zusage für ein kleines Waffengeschäft und einem Vertrag über nukleare Zusammenarbeit nach Libyen, die bulgarischen Krankenschwestern zu befreien, für deren Freilassung andere seit Monaten mit Gaddafi verhandelt hatten. Da wäre aber mal was los gewesen im Staate Deutschland.

Leider ist Angela Merkel schrecklich diskret, wenn man sie nach Nicolas Sarkozy fragt. Was man gerade noch raushören kann, ist, dass Sarkozy auch ihr gelegentlich auf die Nerven geht, was aber offenbar auf Gegen-seitigkeit beruht. Andererseits hilft er, nicht nur den europäischen Laden auf Trab zu bringen. Merkel arbeitet, man hat das schon in Heiligendamm gesehen und jetzt wieder in Lissabon, gern mit jemandem zusammen, der auch was will.

Und er? Würde am liebsten mal was mit Deutschland im Alleingang machen. Er findet Merkel ein bisschen sehr langsam und vorsichtig, immer will sie erst alles mit EU-Ratspräsident José Sócrates und den anderen Europäern besprechen. Kann halt nicht, wie sie will, hat keine absolute Mehrheit wie er, sondern nur Große Koalition. Außerdem kommt sie aus dem Osten. Muss er seine Alleingänge eben ohne sie versuchen.

Wenn man in Merkels Umgebung die in Berlin allgegenwärtige These testet, dass Edmund Stoiber mit seiner unberechenbaren Hyperaktivität nur eine Art Sparringspartner und die vergleichsweise leichte Vorübung für die Sarkozy-Zeit gewesen ist, dann sagen sie: Ja. Aber Sarkozy ist intelligent – ein Satz, der immer interessanter wird, je länger man über ihn nachdenkt.

Sarkozy verhandelt hart. Er weiß genau, wo die rote Linie ist. Wenn jemand klar Nein sagt, dreht er bei. Und dann ist es auch gut. Außerdem hat er ein bewundernswert präzises Gespür dafür, was die Franzosen denken und wie viel sie aushalten. Wenn er auch nur die Hälfte von den dreißig Reformen durchsetzen kann, die er angekündigt hat, wird das schon eine Menge sein: radikale Steuersenkungen, vereinfachte Arbeitsgesetze, regulierte Einwanderung, autonome Universitäten, Beschneidung des Streikrechts – Forderungen, von denen die meisten wie aus Angela Merkels Wahlkampf klingen.

Womit wir bei den Gemeinsamkeiten wären. Sarkozy wurde am 28. Januar 1955 geboren. Merkel ist ein halbes Jahr älter. Beide sind entwurzelte Kinder des Zweiten Weltkriegs, Verschleppte, wenn man so will. Sarkozy ist der Sohn des ungarischen Adeligen Paul Sarkozy de Nagy-Bosca, der nach dem Einmarsch der Roten Armee 1944 über Österreich nach Baden-Baden floh und sich dort der französischen Fremdenlegion andiente. In Marseille verliebte sich Vater Paul in die Tochter eines zum Katholizismus konvertierten jüdischen Arztes aus Griechenland, der einer der wenigen Überlebenden der jüdischen Gemeinde von Saloniki war. Sie bekamen einen Sohn, Nicolas. Als der fünf Jahre alt war, zog der Vater weiter westwärts, in Kennedys Amerika, wo er noch zweimal heiratete. Den kleinen Sohn ließ er in Frankreich zurück.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie: Weswegen jeder Küchenpsychologe erklären kann, warum Sarkozy in seinem ersten Urlaub Speedboot fahren musste)

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Weswegen auch jeder Küchenpsychologe erklären kann, warum Sarkozy sich in seinem ersten Urlaub als Präsident in New Hampshire bei Bush um die Ecke in eine 1200-Quadratmeter-Villa einquartieren musste, mit Kino, Whirlpool und Privatstrand für 44 000 Euro. Er gab dann in Amerika 16 Kommuniqués und ein halbes Dutzend Pressekonferenzen. Und er bretterte mit dem Speedboot so lange und so viel
fotografiert über das Wasser, bis Bush ihn schließlich zum Lunch einlud. Sarkozy erfand dann die französisch-amerikanischen Beziehungen mal eben ganz neu und reklamierte nebenbei die Führungsrolle Frankreichs in allen Weltkonflikten. Deutschland als Vermittler zwischen Frankreich und Amerika? Wird nicht mehr gebraucht.

Die Gefahr eines transatlantischen Wettlaufs der Eitelkeiten aber besteht nicht. Angela Merkel lässt sich auf so etwas gar nicht erst ein. Und dann wird es Nicolas Sarkozy bald auch keinen Spaß mehr machen. Sie werden letztendlich gemeinsam definieren müssen, was die Rolle Europas gegenüber Amerika sein kann.
Sie, Angela Merkel, wuchs wie Nicolas Sarkozy auf in dem Bewusstsein, von außen zu kommen, nicht wirklich dazuzugehören. Sie war am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren und im Alter von drei Wochen in den Osten verschleppt worden, in einer Tragetasche. Weil der Vater entschlossen war, nach dem Studium in Hamburg wieder zurückzugehen zu seiner brandenburgischen Landeskirche. Als dann schließlich die Mauer fiel und Merkel in die Politik ging, da war sie schon wieder eine, die von draußen kam.

Mit diesem Blick von draußen, mit diesem Gefühl, nicht dazuzugehören, kann man Systeme offenbar besser durchschauen und nutzen als diejenigen, die immer schon dabei waren. Wenn man einen Frosch in einen Topf mit warmem Wasser setzt und das Wasser langsam zum Kochen bringt, bleibt der Frosch drinsitzen. Bis er gar gekocht ist. Versucht man jedoch, einen Frosch in einen Topf mit Wasser zu setzen, das bereits siedend heiß ist, dann springt er sofort heraus mit allen Anzeichen von Entsetzen. Das ist der Vorteil derer, die von außen dazugekommen sind. Sie merken noch was und kommen zu etwas anderen Erkenntnissen, als die, die immer schon drinsaßen.

Beide haben 1973 Abitur gemacht. Beide sind in allem und überall die Jüngsten und die Besten. Er studiert Jura und wird mit 28 Jahren der jüngste Bürgermeister Frankreichs. Sie studiert Physik, da konnten die Kommunisten nicht reinreden. Er ist der erste französische Spitzenpolitiker, der nicht die Eliteschule ENA besucht hat und trotzdem Präsident wird. Sie ist die erste Frau in Deutschland, die es ganz nach oben schafft, in einer CDU, in der alle davon ausgingen, dass Helmut Kohls Nachfolger nur ein amtierender Ministerpräsident sein kann.

Beide wurden im Jahr 1998 Generalsekretäre ihrer Parteien. Beide repräsentieren am Ende des 20. Jahrhunderts das Neue, den schon lange fälligen Bruch mit verkrusteten Systemen. Beide haben in den alten Systemen ihre großen Förderer gefunden: Jacques Chirac und Helmut Kohl. Und beide entmachten ihren Mentor eines Tages, um schließlich selbst an die Macht zu kommen und das System für das 21. Jahrhundert zu öffnen und zu verändern. Sarkozy setzt im Präsidentschaftswahlkampf 1995 auf Chiracs Rivalen Balladur. Merkel schreibt auf dem Höhepunkt der CDU-Spendenaffäre einen Aufsatz in der FAZ, der Kohls Ende einleitet.

Der gezielte Tabubruch bei Nicolas Sarkozy. Das gekonnte Spiel mit dem System bei Angela Merkel. So ist es geblieben seither. Sarkozys Methode ist möglicherweise beeindruckender, Merkels Methode risikoärmer. Zusammen sind sie ein bemerkenswertes Paar: der ungestüme starke Franzose und seine große vernünftige Schwester in Deutschland. Jetzt müssen beide nur noch herausfinden, ob sie voneinander was lernen wollen, und vor allem, ob sie sich aufeinander verlassen können.

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