Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus und dem Gefühl, dass ein gesellschaftlicher Zusammenhalt immer stärker gefährdet ist, haben Themen wie Politikverdrossenheit und die Abkehr vieler Menschen von demokratischen System der Bundesrepublik eine neue Dringlichkeit bekommen. Was kann man dagegen tun, jenseits von Sonntagsreden und soziologischen Analysen?
Der Verein »Projekt Denkende Gesellschaft«, vor der Bundestagswahl 2017 gegründet, versucht, Wahlbeteiligung und politisches Engagement mit einem denkbar direkten, tatkräftigen Ansatz zu fördern, nämlich durch Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern. Rund 60 Studenten und Politik-Interessierte sind beteiligt, die inzwischen schon acht Mal für gezielte Kampagnen zur Demokratieförderung unterwegs waren, zuletzt im April diesen Jahres in Sachsen-Anhalt. Konkret läuft das so ab, dass sich die Aktivisten auf eine bestimmte Region oder kleinere Stadt konzentrieren und dort in Zweier- oder Dreiergruppen von Haus zu Haus gehen, um jene Bürgerinnen und Bürger, die sich auf ein Gespräch einlassen, von der Teilhabe am demokratischen Prozess zu überzeugen. Einen bestimmten politischen Fokus haben die Gespräche dabei nicht, der Verein ist parteipolitisch neutral und finanziert seine Aktionen durch Crowdfunding und Spendengelder.
Seit Vereinsgründung haben die Aktivisten 2398 Personen angesprochen, 1505 Gespräche sind dabei herausgekommen, ob für ein paar Minuten an der Haustür oder für zwei Stunden im Wohnzimmer bei Kaffee und Kuchen. Durch die Vielzahl der Gespräche bekamen die Vereinsmitglieder direkten Einblick in die Probleme, die viele Menschen umtreiben. Im Interview erzählt die Berliner Kunststudentin Maithu Bui, die den Verein mitgegründet hat, wie die Gespräche ablaufen und was für Erkenntnisse sie gewonnen hat.
Was möchte Ihr Verein mit den Gesprächen erreichen?
Maithu Bui: Wir machen uns Sorgen, dass viele Menschen gar nicht zur Wahl gehen oder sich vor ihrer Stimmabgabe nicht wirklich eine eigene Meinung über die Parteien gebildet haben. Wir wollen den Menschen zuhören und mit Ihnen in einen politischen Dialog treten, damit sie ihre Ansichten noch mehr hinterfragen.
Bestätigt sich denn bei den Gesprächen die Vermutung, dass Politikverdrossenheit weit verbreitet ist?
Wir haben oft gehört, dass die Leute einfach keine Zeit haben, die unterschiedlichen Programme der Parteien zu vergleichen und sich dann eine Meinung zu bilden. Auch haben so manche kein Internet. Ein Berufstätiger erzählte, dass er abends nach der Arbeit noch zu McDonald’s fährt, um dort das WLAN zu nutzen. Überrascht hat uns allerdings, dass die Menschen dann über politische Programme Bescheid wissen, wenn sie persönlich davon betroffen sind. Ein Zirkusdirektor sagte mir, dass er sich nicht mit Politik beschäftigt – er wusste aber sehr wohl, dass er nicht die Grünen wählt, weil diese Partei ja für die Abschaffung von Tierhaltung in Zirkussen sei.
Nehmen wir an, Sie klingeln an meiner Tür. Was würden Sie sagen?
Hallo! Ich heiße Maithu Bui. Darf ich Ihnen eine kurze Frage stellen?
Ich: Okay, die wäre?
Was ist Ihnen im Leben wichtig?
Und was antworten die Leute darauf?
Überraschenderweise zählen die Befragten dann oft ihre Werte auf, obwohl wir danach nicht explizit gefragt haben. Ganz oben auf der Werteskala steht Sicherheit, gefolgt von Gerechtigkeit, gesellschaftlichem Zusammenhalt, Familie, Respekt und Gesundheit.
Ich würde jetzt zum Beispiel sagen: Familie ist mir am wichtigsten. Wie geht das Gespräch dann weiter?
Im zweiten Schritt versuchen wir herauszufinden, ob dieser Wert Familie auch gelebt werden kann, oder ob es damit Probleme gibt.
Und wenn ich sage: Ja, es gibt ein Problem, ich finde für mein Kind keinen Kindergartenplatz und kein Politiker hilft mir?
Dann versuchen wir, Lösungswege für das Problem aufzuzeigen. Zum Beispiel zur Bürgersprechstunde zu gehen und dort das Problem anzusprechen. Oder den Nachbarschaftstreff zu besuchen und dort nach einer Tagesmutter zu fragen. Wir wollen den Leuten damit vermitteln, dass die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben auch schon eine Teilnahme am politischen Prozess ist.
Und wenn ich mich dann entrüste, das habe alles keinen Sinn, weil die Politiker allesamt Verbrecher seien? Wie würden Sie solch einem Pauschalurteil begegnen?
Erstmal versuchen wir, dieses Urteil von der emotionalen auf eine rationale Ebene zu heben. Wir fragen: Um welche Politiker geht es konkret? Hat unser Gesprächspartner persönliche Erfahrungen mit dem einen oder anderen gemacht? Meistens kommen diese Informationen aus purem Hörensagen. In einer Stadt in Sachsen-Anhalt ging zum Beispiel das Gerücht um, Lokalpolitiker würden sich aus der Stadtkasse bedienen. Einer will sogar gesehen haben, wie ein Stadtrat vor dem Rathaus mit einem Scheck gewedelt habe.
Warum informieren sich die Menschen oft nicht über politische Programme?
Entweder sie kapitulieren vor dem riesigen Angebot an Themen, oder wissen nicht wie. Viele ältere Menschen haben kein Internet und auch sonst kaum Gelegenheit, sich zu informieren oder auszutauschen. Oft sind der einzige Kontakt die anderen Kunden im Supermarkt. Da wird dann eine politische Meinung mal schnell aufgeschnappt und gleich verinnerlicht.
Politikverdrossenheit ist also auch ein soziales Problem?
Ja, absolut. Es sind ja nicht nur die Medien, die zu einer politischen Meinungsbildung beitragen. Auch Diskussionen mit Nachbarn, Freuden und Familienmitgliedern können zu mehr Interesse und damit zu mehr politischer Mitbestimmung beitragen. Bei den Gesprächen versuchen wir immer wieder, die Leute zu einem solchen gesellschaftlichen Austausch anzuregen. Denn wir haben gesehen, dass der vielerorts kaum stattfindet. Ein Kleingärtner in Niederau bei Berlin erzählte uns am Gartenzaun, dass er noch nie mit seinem Nachbarn gesprochen habe.
Zuletzt war Ihr Verein in Sachsen-Anhalt unterwegs, wo die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl um zehn Prozent unter dem Bundesdurchschnitt lag. Haben die Menschen in Ostdeutschland Ihrem Eindruck nach grundsätzlich weniger Interesse an politischem Engagement als im Westen?
Die Probleme mit der politischen Meinungsbildung sind eigentlich überall gleich. Entfremdung vom sozialen Umfeld findet man überall, ob im Plattenbau in Halle oder am Savignyplatz in Berlin. Da erzählte mir eine Frau, dass sie gar keine Chance habe, ihre Nachbarn kennenzulernen, so schnell seien die wieder ausgezogen. Was uns allerdings auffiel: Im Osten kam auf die Frage nach den Werten öfter »Arbeit« als Antwort als im Westen. Es stellte sich heraus, dass Leute, die noch den Alltag in der DDR erlebt hatten, ein Problem mit Hartz IV haben. Es passt einfach nicht in ihr Weltbild, Geld zu bekommen, ohne dafür zu arbeiten. In der DDR herrschte ja Vollbeschäftigung, auch wenn jemand Kartoffelkäfer auf dem Feld aufsammelte für einen Pfennig pro Stück.
Wie reagieren Sie auf Ressentiments gegenüber Flüchtlingen?
Unsere Strategie ist, erstmal jedes Vorurteil anzuhören. Dann versuchen wir herauszufinden, inwieweit der Befragte persönlich davon betroffen ist. Viele Menschen haben schlicht Angst vor verschleierten Frauen, weil es eine Veränderung ihres persönlichen Umfelds bedeutet, und das allein schon erzeugt Verunsicherung. Oft habe ich auch gehört, dass Flüchtlinge mehr Geld vom Staat bekämen als zum Beispiel Hartz-IV-Empfänger – nur weil zum Beispiel ein angeblich Geflüchteter mit einer H&M-Tüte an der Kleiderspende-Ausgabe vorbei spaziert war.
Ihre Vereinsmitglieder haben über 1500 Gespräche geführt, ab August werden sie in Bayern unterwegs sein. Lohnt der ganze Aufwand?
Auf jeden Fall. Ob wir bei den Befragten tatsächlich mehr politisches Bewusstsein erreicht haben, ist allerdings schwer zu sagen. Als wir dieses Jahr zum zweiten Mal in Bernburg, Sachsen-Anhalt, waren, trafen wir einige Menschen wieder, mit denen wir schon gesprochen hatten – sie sagten, dass sie seit dem Gespräch mit uns mehr über Politik nachdenken würden. Ein anderer Aspekt ist, dass wir durch die Gespräche mal aus unserem persönlichen Meinungsumfeld heraustreten. Inzwischen kann ich gar nicht mehr verstehen, warum ich nicht öfter mit meinem Nachbarn über seine Werte oder seine politische Meinung geredet hatte.