Ein Mittwoch morgen im April, Jörg Sartor und seine beiden Kollegen von der Essener Tafel nehmen neue Kunden auf: Ein älterer Mann ist an der Reihe, er hat 20 Jahre in der Dominikanischen Republik gelebt und Kopierer repariert, »da gibt es ja keine Techniker«. Als er zurück nach Deutschland kam, fand er keine Arbeit mehr. Und seine ehemalige Heimat erkannte er auch nicht wieder. »Früher hatt’ste an jeder Ecke einen Bekannten, aber die sind alle weg. Überall Ausländer. Wenn Du auf die Namensschilder der Häuser schaust, nur noch Ausländer.« Die Skatrunde, die Büdchen. »Gibt’s alles nicht mehr.« Der Fleischer, der Bäcker an der Ecke. Alles weg. »Manchmal fühl ich mich hier gar nicht mehr zuhause hier«, sagt der Mann. »Wem sagen Sie das«, sagt Sartor.
Es sind 60 Menschen gekommen, die in der Tafel aufgenommen werden wollen, sie kommen aus aller Welt: Deutschland, Frankreich, Russland, Türkei, Irak. Das Treppenhaus ist voll mit jüngeren Männer, älteren Frauen, Familien mit Kindern.
Als nächstes ein Paar mittleren Alters. »Waren Sie schon mal bei uns?«, fragt Sartor. Keine Antwort: Erstes Mal hier? Ja. Sartor und sein Kollege schauen auf den Hartz IV-Bescheid. »Sie haben keine Kinder?« Nein. »Dann können wir sie nicht nehmen. Tut mir Leid. Der Nächste, bitte!«
Sartor ist 61, ehemaliger Bergarbeiter, frühpensioniert, ausgestattet mit einer lauten Stimme und einem erheblichen Klangkörper. Er leitet die Essener Tafel seit 13 Jahren, ehrenamtlich. Seit gut einem Monat ist sein Name in aller Welt bekannt. Genauer gesagt seit dem 22. Februar, dem Tag, als die Westdeutsche Allgemeine Zeitung diesen Artikel druckte: »Essener Tafel nimmt nur noch Deutsche auf«. Die Diskussion darüber, ob der zeitweise Aufnahmestopp für Ausländer berechtigt, übertrieben oder gar rassistisch sei, beschäftigte Politik und Medien wochenlang. Seit Ende März nimmt die Essener Tafel wieder Menschen ohne deutschen Pass auf. Doch wie lange? Wir werden schon wieder eng, erklärt Sartor, nachdem das Paar das Zimmer verlassen hat. Deshalb bevorzuge die Tafel nun Alleinerziehende, Familien mit kleinen Kindern. Auch so lässt sich der Ausländeranteil steuern.
Die ältere Frau aus der Ukraine, die als nächste das Büro betritt, nimmt Sartor dennoch auf. »Hat zwar weder Kind noch Kegel, aber: über 60«. Sie lebt seit 2011 in Deutschland und spricht kaum deutsch. »Von wegen Integration«, brummt Sartor. Sie erhält eine Kundenkarte und darf damit ein Jahr lang Woche für Woche eine Tüte Lebensmittel bei einer der elf Ausgabestellen in Essen abholen.
Es folgt eine weitere Frau aus der Ukraine, dann noch eine. »Is ja ein ganzer Clan hier«, dröhnt Sartor mit gespielter Entrüstung. »Seid Ihr mit dem Zug gekommen?« Seine beiden Kollegen lachen. Die Frau zuckt kurz zusammen und lacht dann mit. Sartor schaut auf ihren Behördenbescheid. Sie ist gerade drei Tage in Deutschland – »und schon bei uns hier«. So funktioniere das in manchen osteuropäischen Communitys. »Die sind so straff organisiert, im Flugzeug geben die ihren Leuten schon einen Zettel mit unserer Adresse.« Die Frau sei »kein bisschen« in einer Notlage, stellt Sartor fest. »Ärgert einen schon, mit welcher Selbstverständlichkeit die zu uns kommen. Schwierig.«
Es gibt nicht wenige, die eher Sartor, als schwierig empfinden, seine direkte Art und seine Aufnahmepolitik. Und doch scheint er für viele Menschen eine Art Erlöserfigur dazustellen. Fast 5000 Emails hat er inzwischen erhalten, überwiegend positive. Als er kürzlich sein Büro zusperrte und den Wasserturm unweit des Hauptbahnhofs verließ, den Hauptsitz der Essener Tafel, wartete ein Mann auf ihn, der eigens aus Stuttgart angereist war. Er überreichte ihm einen Prospekt seiner Ferienwohnung auf Rügen. Falls Sartor mal Urlaub machen wolle, sei er herzlich eingeladen. Was macht diesen Mann anziehend, der jenseits aller Korrektheit Dinge von sich gibt, für die jeder Politiker durchs Land gejagt würde?
Die Geschichte der Essener Tafel und ihrem umstrittenen Beschluss beginnt weit vor dem 22. Februar, als der WAZ-Artikel erschien. Schon 2017 machen sich Sartor und seine Mitstreiter Gedanken, warum viele der früheren, deutschen Kunden ausbleiben. Der Vorstand ist seit Jahren der gleiche, die Qualität der Lebensmittel eher besser geworden. Was hat sich geändert? Nachfragen ergaben, dass sich gerade alleinstehende Frauen und ältere Menschen zunehmend unwohl gefühlt haben an den Ausgabestellen der Tafel. Zur Neuaufnahme kamen überwiegend Menschen mit ausländischem Pass. Sartor und seine Leute durchkämmten die Datenbank mit den gut 6000 Kunden. Ergebnis: 75,1 Prozent Ausländer. Der Ausländeranteil in der Essener Bevölkerung beträgt 24 Prozent, unter den Sozialhilfeempfänger sind es 40 Prozent. Die Verantwortlichen der Essener Tafel beschlossen, das Verhältnis unter den Kunden wieder ins Lot zu bringen: 50 Prozent Deutsche, 50 Prozent Ausländer. »Ich mach die Essener Tafel, nicht die syrische Flüchtlingshilfe. Ich will, dass auch die deutsche Omma wieder zu uns kommt«, begründet Sartor den drastischen Schritt. Bereits im Dezember 2017 ist auf der Webseite der Tafel Essen zu lesen, dass ab 10. Januar keine Ausländer mehr neu aufgenommen werden – für einen begrenzten Zeitraum von sechs Wochen bis drei Monaten. Sartor unterrichtet auch die Förderer der Tafel von der Maßnahme. Eine Reaktion bleibt aus.
Am 10. Januar stehen 110 Menschen am Wasserturm. 60 bis 70 davon schickt Sartor wieder nach Hause, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Wieder keine Reaktion. Einige der Abgewiesenen wollen nur wissen, wann der Aufnahmestopp endet. Sartor informiert den Sozialdezernenten der Stadt Essen. Der erkundigt sich, ob es Beschwerden gegeben habe, und hat ansonsten nichts Grundsätzliches einzuwenden. Die Tafel-Verantwortlichen wundern sich, sie haben mit Unruhe gerechnet. »Seltsamerweise gab es noch keinen Krach«, wird Sartor in dem WAZ-Artikel am 22. Februar zitiert. Das ändert sich nach dem Artikel.
Er bekommt Tausende Zuschriften in den folgenden Wochen, selbst aus Südafrika, Argentinien oder Mexiko. Zeitungen und Fernsehsender aus aller Welt berichteten, BBC, New York Times und Washington Post. Fast das gesamte Personal der Berliner Republik nimmt Stellung zum Vorgehen der Essener Tafel. Katarina Barley, damals noch Sozialministerin, kritisiert, es passe nicht zu den Grundwerten einer solidarischen Gesellschaft, eine Gruppe »pauschal auszuschließen«. Der Bundesvorsitzende der Tafeln, Jochen Brühl, äußert im Fernsehen, der Schritt in Essen sei »nicht nachvollziehbar« und »nicht der richtige Weg«. Sozialverbände und Flüchtlingsvereine beklagen, die Maßnahme sei rechtswidrig und Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen. Hinter den Kulissen wird Druck auf Sartor ausgeübt, den Aufnahmestopp zurückzunehmen. In Berlin findet eine Sitzung der bundesweiten Tafeln statt, »hier brennt der Baum«, erfährt Sartor von einem befreundeten Kollegen. Es steht ein Jubiläum an, 25 Jahre Tafeln in Deutschland, da stören die Schlagzeilen aus Essen. Sartor entgegnet seinen Kritikern, sie sollen doch erst mal zu ihm kommen und sich ein Bild vor Ort machen, bevor sie urteilen. Und bleibt bei seiner Linie. Auch als Unbekannte seine Fahrzeuge mit der Aufschrift »Nazis« beschmieren. Auch als Kanzlerin Merkel in einem RTL-Interview äußert, man solle »nicht solche Kategorisierungen vornehmen«, das sei »nicht gut«.
Vier Wochen später, Sartor erledigt Alltagsarbeit in der Tafel. Im Minutentakt klopfen Helfer an seine Tür, fragen ihn, wo eine Ladung Schinken verstaut werden soll, wo die belegten Brötchen sind, wollen Telefonnummern wissen oder suchen die Schlüssel für die Transportfahrzeuge. Sartor hat immer eine Antwort, kümmert sich um alles. Er koordiniert 120 Mitarbeiter, die 6000 Kunden und 120 soziale Einrichtungen versorgen – Heilsarmee, Bahnhofsmission, Kindergärten, Schulen. Sein Büro, ein einziges Chaos: keine zehn Quadratmeter groß, Regale voller Lebensmittel, auf dem Boden ein Stapel Paletten mit Nudelsoßen, Schinken-Sahne, Tomate mit Kräutern und Bolognese. Auf dem Schreibtisch neben dem Computer ein Haufen Mappen und Zettel, mehrere orangefarbene Sammeldosen, Süßstoff, eine Mundspülung. Wie hat er dem Druck der vergangenen Wochen standgehalten?
Er grinst. »Ich bin Rentner, finanziell unabhängig und hab nix zu verlieren. An diesem Job hängt nicht mein Leben. Aber solange ich ihn mache, kann mir von außen niemand etwas vorschreiben.«
Er hat auch viel Zuspruch erhalten. Andreas Scheuer von der CSU meldete sich und fragte, wie es ihm gehe, sicherte ihm rechtliche und mediale Unterstützung zu. 15 Minuten später klingelte das Telefon, Alexander Dobrindt war dran, ebenfalls CSU. Der Essener OB und sein Sozialreferent, beide CDU, standen zu Sartor, obwohl sie mit der Maßnahme nicht unbedingt einverstanden waren. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet fragte nach, ob er alles im Griff habe. Integrationsminister Stamp erkundigte sich, was er für ihn und die Tafel-Mitarbeiter tun könne. Sartor empfahl, die ausländischen Verbände darüber zu informieren, was eine Tafel eigentlich ist. Viele Ausländer seien der Meinung, dass es sich um eine staatliche Stelle handle, auf deren Leistungen jeder Anrecht habe.
Von der Parteispitze der SPD rief Manuela Schwesig an und ließ sich von Sartor detailliert schildern, was ihn zu dem Aufnahmestopp bewogen habe. Am Ende sei sie entrüstet gewesen: »Das kann doch wohl nicht wahr sein, was hier in Berlin ankommt von der Geschichte«. Franziska Giffey, kürzlich noch Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln, jetzt neue Bundesfamilienministerin, telefonierte eine Stunde mit Sartor, »nach zehn Minuten waren wir per Du«. Sie habe die Problematik gekannt, wollte aber auch mit dem Tafelchef persönlich sprechen, weil sie am nächsten Tag zur Talkshow von Maybrit Illner eingeladen war. Sartor gab ihr mit auf den Weg, vielen Politikern fehle die Nähe zur Basis. »Sie sind von Leuten umgeben, die ihnen nicht die Wahrheit sagen. Die Wahrheit sagen dir nur Leute wie ich, die finanziell unabhängig sind und nichts mehr werden wollen. Davon gibt’s Tausende im Land.«
Duckmäuserei und Untertanen hasst er. Hasste er schon, als er noch im Bergwerk arbeitete. Wenn der Vorstand kam, seien »immer junge Doktoranden um ihn herum geschlichen. Fürchterlich.« Demnächst ist er bei der CDU eingeladen, zum Spargelessen. Normal verhalte er sich als Tafelchef politisch neutral. Aber nun hat er einmal zugesagt, weil »die mir geholfen haben«. Zu dem Essen wird auch der Innenminister erwartet, und Sartor schwant, dass wieder Menschen um ihn herumwuseln werden wie die Doktoranden um den Bergwerksvorstand. »Mir kommt jetzt schon das Kotzen.«
Natürlich hatte er Anfragen für Talkshows. Als er ablehnte, wurde er gefragt, wo seine finanzielle Schmerzgrenze liege. Doch Sartor hörte auf einen Sponsor der Tafel, der für ein Industrieunternehmen Pressearbeit macht. Der riet ihm kategorisch ab, ins Fernsehen zu gehen. Eine kluge Entscheidung: So blieb Sartor der kleine ehrenamtliche Helfer, der aus der Not heraus eine unpopuläre Entscheidung getroffen hatte, gefangen in einem Dilemma. Spätestens als Angela Merkel ihn via RTL persönlich abkanzelte, standen Medien und Öffentlichkeit auf der Seite des gar nicht so kleinen Mannes. Mehr als die Hälfte der Deutschen hielt laut einer Umfrage Merkels Kritik für unangebracht.
Die Tafel hat im März so viel Spenden bekommen wie sonst in einem halben Jahr. Nur zwei der 120 Mitarbeiter sind aus Protest ausgestiegen. Hunderte von Zuschriften, die Sartor bekommen hat, sind mittlerweile in einem Ordner abgeheftet. Die meisten der Tausenden von Mails hat er bisher nur überflogen. Die Zustimmung ist überwältigend. Auch Peer Steinbrück übermittelte seinen »Respekt für Ihr Auftreten, Ihre Courage und äußere Gelassenheit in turbulenten Zeiten.« Weiter schrieb der frühere SPD-Kanzlerkandidat: »Einen solchen Sturm von schnellen Urteilen, Ressentiments und sogar bösartigen Diffamierungen standzuhalten, lässt auf Ihre Standfestigkeit und Überzeugung schließen, in einer schweren Situation das Richtige getan zu haben. Ich habe selbst bis in die jüngste Zeit die Erfahrung gemacht, dass sich Leute (auch von höchster politischer Stelle) Bewertungen erlauben, wenn nicht anmaßen, ohne die leiseste Ahnung von den jeweiligen Verhältnissen vor Ort oder von dem zu haben, was tatsächlich gesagt oder geschrieben worden ist. Vorauseilende Empörung und Empörung von der hohen Mauer moralischer Überlegenheit ist leider nicht selten zu verzeichnen.« Ein Mann aus Bayern – »das ist mein Lieblingsbrief«, so Sartor – sandte ihm folgende Zeilen: »Sehr geehrter Herr Sartor, Sie sind etwas, was in diesem Land sehr selten geworden ist: ein Mensch mit Würde, Charakter, Anstand, Mut und gewissem Menschenverstand. Oft glaubt man verzweifeln zu müssen ob gewisser Zustände. Man könnte vermuten, dass dieses Land dem kollektiven Wahnsinn verfallen wäre. Überall Ideologie, Opportunisten, rückgratlose Politiker, Ja-Sager. Sie sind ein Licht in dieser Dunkelheit und haben mir wieder Hoffnung gegeben. Danke!«
Sartor wird gelobt für seine Standfestigkeit und seinen Mut. Immer wieder heißt es, er solle nur nicht einknicken vor den Medien und den ahnungslosen Gutmenschen. Die Absender kommen aus allen Schichten und Berufen: mehrere Rechtsanwälte, eine Frauenärztin, eine frühere Realschulrektorin, ein Ex-Botschafter, ein Europapolitiker, ein Jugendclub aus Schleswig-Holstein, ein Sozialarbeiter aus Berlin, eine Ernährungsberaterin, ein Stadtplaner, die Gründerin eines Eine-Welt-Ladens. Und: kaum AfD-Leute. Von der Partei hat sich Sartor mehrmals distanziert.
In vielen der Briefe klingt der Frust an, den auch der Tübinger Grünen-Politiker Boris Palmer in seinem Buch Wir können nicht allen helfen beschrieben hat; es geht darin um die Willkommenskultur und die Diskussion über Flüchtlinge in Deutschland. Wer es wagte, Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik zu äußern, so Palmer, sei schnell in einen Topf mit den AfD-Politikern Höcke und Petry geworfen worden. Palmer macht diese »politischen Vernichtungsversuche im Gewand der moralischen Reinheit« dafür verantwortlich, dass »eine Diskussion in der Sache fast unmöglich« geworden sei. Das Problem sei, »dass viele denken, sie dürften nicht mehr sagen, was sie wollen, und es deshalb lieber für sich behalten«. Das habe zu einer Diskursblockade geführt, »die es rechtspopulistischen Parteien erst ermöglicht, sich als Fürsprecher der einfachen Leute und Tabubrecher zu inszenieren«.
Der Essener Tafelchef hat sich von dieser Stimmung, die Palmer wahrnimmt, nie beeindrucken lassen. Er kritisiert die türkischen und arabischen jungen Männer, die im Gedränge vor dem Eingang der Tafel die Älteren und Schwächeren wegdrängten, für ihre fehlende »Anstellmentalität«. Die Libanesen in Essen hält er für kaum disziplinierbar. Bei Kunden aus Osteuropa hat er ein »Nehmer-Gen« ausgemacht, »die nehmen alles«. Einmal habe ein Spender bei der Tafel einen Karton mit Kinderbettwäsche abgestellt. Ein Russe fragte daraufhin, ob er die Kiste mitnehmen könnte, Begründung: «Kann man immer brauchen«.
Sartor beobachtet solche Dinge, zieht seine Schlüsse und spricht sie aus. Ist er deshalb ein Rassist?
Eine Fahrt durch den Norden von Essen. Die Gegend nördlich der Autobahn A 40 erlebt seit Jahrzehnten einen Niedergang, sagt Sartor. Ganze Straßenzüge ohne ein deutsches Geschäft. Drogendealer aus Schwarzafrika in und um den Rheinischen Platz, mitten im Stadtzentrum. Er selbst sei auch schon von einem angesprochen worden, »am helllichten Tag«. Altenessen, einst das Viertel mit der größten Kneipendichte in Nordrhein-Westfalen. Alles weg. Sartor steuert eine Straße an, auf der junge Libanesen oft auf dem Fahrradstreifen oder in zweiter Reihe parkten. »Wenn Sie die ansprechen, werden sie maßlos beschimpft. Die Polizei macht nichts dagegen.« Weiter zum Kaiser-Wilhelm-Park, früher eine begehrte Wohngegend. »Heute ziehen alle weg, die es sich leisten können.« Am Wochenende kämen viele Roma zum Grillen in den Park, obwohl es verboten sei. »Wird aber geduldet.« Kürzlich sei er in der Gegend mit der U-Bahn gefahren, zu seinem Freund Erwin. Außer ihm nur Gruppen arabischer Jugendlicher. »Ich bin ja nicht ängstlich«, sagt Sartor, aber auf dem Rückweg habe er ein Taxi genommen.
Das Problem seien nicht die einzelnen Ausländer, da gibt es viele umgängliche, nette Menschen, meint Sartor. Schon als Kind habe er diese Lektion gelernt. Er hat mit Kindern aus Italien und der Türkei gespielt. »Das ging immer gut, durften nur nicht mehr als drei von einer Sorte sein.« Integration könne nur funktionieren, wenn das Verhältnis stimmt zwischen denen, die hier leben, und denen, die neu kommen. »Da versagt die Politik seit dreißig Jahren, das hat nichts mit der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel zu tun.« Er habe nur nicht verstanden, warum Merkel nicht schon früher zugegeben habe, »dass wir eben doch alles nicht so einfach schaffen«.
Sartor biegt in eine Siedlung ein, in der früher Menschen wohnten, die in den 60 Bergwerken der Stadt schafften. Die Häuser - Relikte aus eine Zeit, in der sich Unternehmen noch verantwortlich fühlten, für ihre Arbeiter Wohnungen zu bauen. Wenn Sartor über diese Zeit spricht, wird klar, wie sehr die Lebensqualität für viele Bewohner der Stadt gesunken sein muss. Bewohner, die nun, da nach dem Strukturwandel die Einwanderung das Bild der Stadt dramatisch verändert, die Sorge umtreibt, dass es noch weiter abwärts gehen könnte. Da nützt es wenig, wenn wohlmeinende Politiker beteuern, Deutschland sei doch in den letzten Jahren bunter geworden.
Es sind die berühmten Sorgen der kleinen Leute, die so gern von Politikern angesprochen werden, denen es am Ende doch nur um Wählerstimmen geht. Auch von den Medien werden diese Menschen selten ernst genommen, selbst wenn sie es, wie der Spiegel vor gut zwei Wochen, vorgeben: ein Heft, mit der bangen Frage »Ist das noch mein Land?« auf dem Titel. Es ging um »berechtigte Sorge« und »übertriebene Angst« in der aktuellen Debatte um Islam und Heimat. Illustriert war das Ganze mit einem Gartenzwerg, der sich die Mütze vor Angst tief ins Gesicht zieht. Die Botschaft: Es sind halt doch läppische Sorgen, die den deutschen Spießbürger umtreiben.
Der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer kennt diese Haltung von der Diskussion über die Flüchtlinge zur Genüge: »Die öffentliche Debatte wurde von jenen Menschen geprägt, die sich und anderen sagen konnten, Deutschland sei ein reiches Land und könne die Aufnahme der Flüchtlinge ohne größere Probleme bewältigen. Diejenigen aber, die von diesem Reichtum wenig abbekommen und deshalb die Entwicklung skeptisch beäugen, fanden mit ihren Sorgen wenig Gehör.« Auch das erklärt, warum ein Mann wie Sartor in diesen Tagen soviel Sympathie und Zuspruch erntet: Die Leute spüren, dass da einer ist, der nicht nur redet, sondern für sie kämpft.
Er hätte sich das Leben viel leichter machen können, wenn er das Thema Ausländer nicht erwähnt hätte. Andere Tafeln selektierten ja auch, sagt Sartor. 2015 etwa, als die große Flüchtlingswelle Deutschland erreichte, hätten viele seiner Kollegen beschlossen, vorerst keine jungen alleinstehenden Männer mehr aufzunehmen. »Wen haben die damals wohl gemeint?«, fragt er mit unüberhörbarem Sarkasmus. Er hätte dem von seinen Kritikern vorgebrachten Rat annehmen und an einem Tag Deutsche, an einem anderen Tag Ausländer aufnehmen können. »Aber was ist, wenn wir festlegen, dass wir 50 aufnehmen - und es kommt der 51ste? Dann muss ich doch auch Nein sagen.« Außerdem wolle er Deutsche und Ausländer nicht getrennt behandeln, »wir sind doch für Integration«. Aus diesem Grund lehnt er auch ab, was ihm ebenfalls nahegelegt wurde: Dolmetscher zu beschäftigen. »Die Leute sollen doch Deutsch lernen.« Er wird auch keinen Sicherheitsdienst anstellen, um Gedränge am Eingang zu vermeiden, auch so ein Rat. „Wir wollen hier keine Kapos«, ätzt er. Es macht ihn einfach wütend, dass viele Menschen von außen glauben, er und seine Mitstreiter hätten nicht längst alle Optionen durchgespielt.
Er könnte es sich auch jetzt noch leicht machen und sich jenen Politikern anschließen, die zu seinen Gunsten äußerten, die Maßnahme der Essener Tafel sei ein Hilfeschrei gewesen. Der Ansturm auf die Tafeln deute auf ein größeres Problem hin: dass die staatlichen Leistungen nicht mehr reichten. Doch Sartor hält es eher mit dem CDU-Politiker Jens Spahn und sagt, die Grundsicherung der Menschen sei durch den Staat gewährleistet. »Was wir machen, ist Zusatzversorgung.« Auch wenn das viele seiner Kollegen anders sähen: Die Tafeln übernähmen eben keine staatlichen Aufgaben, ihr Zweck bestehe darin, überschüssige Lebensmittel vor der Vernichtung bewahren und an bedürftige Menschen verteilen. »Wenn ich morgen die Bude schließe, muss niemand verhungern, da hat der Spahn schon recht.«
Natürlich will er mit seinem Angebot denen helfen, die es schwer haben. Er erzählt von einer alleinerziehenden Frau, die sich Lebensmittel bei der Tafel besorgte und vom gesparten Geld eine Waschmaschine kaufte. So etwas imponiert ihm, weil er weiß, dass viele Arme auch anders mit ihrem Geld umgehen: »Gehen Sie mal am Monatsende, nach der Hartz IV-Auszahlung, zu McDonalds! Da ist die Bude rappelvoll.« Sartor kann das verstehen: Die McDonalds-Tüte ist eine Entschädigung für die Kinder, die schon genug durchmachen. Aber er fragt sich: »Wie weit kann man das Spiel spielen? Was will man alles durch Sozialgeld finanzieren?«
Das unterscheidet Sartor von vielen seiner Kritiker: Er bezieht sein Wissen aus der Praxis und seinem Alltag, nicht aus irgendwelchen sozialen Medien. Über vieles, was er sagt, lässt sich streiten. Er provoziert gern, und manche seiner Aussagen sind verletzend. Er wägt nicht ab, weil er kein Politiker ist, schon gar kein Diplomat.
Trotzdem, oder gerade deshalb, lohnt es sich, ihm zuzuhören.