Kurz vor dem Saison-Start der Football-Liga im Herbst 2016 begeht Colin Kaepernick, der Quarterback der San Francisco 49ers, einen unverzeihlichen Affront: Er steht nicht auf, als die amerikanische Nationalhymne gespielt wird, das »Star-Spangled Banner«. Den berühmten Refrain kennt jeder: »Das Sternenbanner... /Möge lange wehen/Über dem Land der Freien/Und der Heimat der Tapferen.«
Sobald die ersten Töne erklingen, stehen alle stramm und legen die Hand aufs Herz, sogar bei unpolitischen Veranstaltungen wie der Eröffnung einer Disney Show oder eben Football. Das wird übrigens auch von deutschen Besuchern erwartet. Kaepernick aber hat gute Gründe, das nicht zu tun: »Ich werde nicht aufstehen, um Stolz auf die Flagge eines Landes zu demonstrieren, das Schwarze und andere farbige Menschen unterdrückt«, erklärte der Sohn einer weißen Mutter und eines afroamerikanischen Vaters. »Es wäre egoistisch von mir wegzusehen. Da liegen Leichen auf der Straße, und Leute, die bezahlten Urlaub haben, kommen mit Mord davon.« Sein Sitzenbleiben ist eigentlich ein Aufstand: »Farbige sind die Zielscheibe der Polizei«, meinte Kaepernick. »Du kannst in sechs Monaten Polizist werden und brauchst dafür weniger Training als eine Kosmetikerin. Das ist wahnsinnig. Jemand, der einen Lockenstab bedient, bekommt mehr Ausbildung und Training als die Leute, die Waffen tragen und auf der Straße unterwegs sind, um uns zu beschützen.«
Nicht erst seit dem letzten Wochenende, an dem Polizisten einen Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville, Virginia, gewähren ließen und zunächst tatenlos zusahen, wie Nazis mit Schlagstöcken und Waffen Schwarze und Gegendemonstranten verprügelten, haben sich die Fronten verhärtet. Ein Neonazi raste mit seinem Truck in eine friedliche Gegendemonstration, tötete dabei die 32 Jahre alte Heather Heyer und verletzte 19 Menschen teils schwer. Mehrere Schläger trugen Trump-Hüte, aber Trump brauchte ganze zwei Tage, um sich zu dem Satz durchzuringen, »Rassismus ist böse«. Rassistische Gruppen fühlen sich ermutigt und erstarken. Die tiefe Wunde Rassismus, ohnehin nur dünn vernarbt und niemals richtig verheilt, ist nun blutig aufgebrochen.
Die wenigsten Amerikaner wissen (oder scheren sich darum), dass ihre Nationalhymne 1812 von einem Sklavenhalter geschrieben wurde, Francis Scott Key. Die dritte Strophe feiert buchstäblich den Tod von Sklaven, die sich aus der Versklavung befreien konnten. Deshalb wird normalerweise heute nur die erste Strophe gesungen. Und schon allein deshalb klingt es in den Ohren vieler Schwarzer bizarr, wenn von ihnen erwartet wird, auch sie müssten bei der Hymne automatisch strammstehen.
Erinnern Sie sich, dass auch in Deutschland schon mal eine »Mitsing-Pflicht« diskutiert wurde? Jogi Löw und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft wurden dafür kritisiert, dass sie beim Abspielen des Deutschlandliedes stumm blieben. Auch bei Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandlied lassen wir einige Strophen lieber weg, weil sie allzu nationalistisch klingen (»Deutschland, Deutschland, über alles...«). Selbst in Deutschland fordern einige, wir bräuchten eine neue, zeitgemäße Nationalhymne.
Aber in Amerika hat der Nationalstolz eine ganz andere Dimension. Kaepernick wurde nicht nur kritisiert, er bekam Morddrohungen. Donald Trump forderte ihn auf, das Land zu verlassen. Tausende Amerikaner warfen ihm Undankbarkeit vor und drohten, die Football-Spiele zu boykottieren. Und vor allem: Er bekommt seitdem keinen Job mehr. In wenigen Wochen startet die Football-Saison, und ein mittelmäßiger Quarterback nach dem anderen unterschreibt Millionenverträge, aber ausgerechnet der ziemlich gute Kaepernick findet kein Team. Auch das ist Rassismus. Trump hat sich persönlich damit gebrüstet, dass sein Engagement die NFL davon abhält, Kaepernick ins Team zu nehmen: »Sie wollen keinen gemeinen Tweet von Donald Trump bekommen«, sagte Trump. Alles als Strafzettel dafür, dass einer sitzen bleibt.
Inzwischen hat Kaepernick seinen Protest variiert: Er kniete in der letzten Saison während der Nationalhymne nieder. Aber es geht längst nicht mehr nur um Kaepernick. Die Bewegung, die er damit gestartet hat, lässt sich jetzt nicht mehr aufhalten. Man muss sich nicht für Football interessieren, um zu begreifen, wie wirkungsvoll diese Geste ist. Sie wurde seitdem hundertfach von anderen Spielern kopiert, von College-Spielern an der Universität von Nebraska und den zwölfjährigen Jungs der Beaumont Bulls in Texas, die dafür prompt suspendiert wurden, bis zu Menschenrechtlern, die sich in Kaepernicks Trikot vor Polizisten auf der Straße niederknien. Manche strecken die gereckte Faust in die Höhe, wie einst die Bürgerrechtler der Schwarzen Panther. Kaepernicks Trikot mit der Nummer Sieben ist überall ausverkauft. Kaepernick hat geschworen, er werde sich erst wieder zur Nationalhymne erheben, wenn die Ungerechtigkeiten, die er anprangert, behoben sind. Das kann dauern. Aus dem Quarterback Kaepernick wure eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung: Die Symbolik des Kniens, mit erhobener Faust, versteht jeder.
Aber nicht jeder versteht, wie viel Frustration sich bei den Schwarzen aufgebaut hat. Schwarze werden als Sportler, als Musiker und als Künstler gefeiert - was wäre die amerikanische Musik ohne den Jazz, den Blues und den Soul? Wie sähe die amerikanische Olympia-Bilanz ohne schwarze Gewinner wie Simone Biles oder Gabby Douglas aus? Doch das Sagen haben selbst in diesen Disziplinen meist andere. So sind fast 80 Prozent der Football-Spieler schwarz - aber nur einer der einflussreichen Vereins-Besitzer ist nicht weiß (Shahid Khan wurde in Pakistan geboren). Bei Major League Baseball sieht es nicht viel anders aus.
Wer hoffte, Amerikas erster schwarze Präsident sei ein Beweis dafür, dass der alte Rassismus überwunden ist, wurde eines Besseren belehrt: Klar, Obama wurde gewählt, sogar zweimal, aber seine Wahl entlarvte gleichzeitig den grassierenden Rassismus noch deutlicher. Dass Millionen anzweifelten, er sei ein echter Amerikaner, erinnert an die vielen Jahrzehnte, in denen Schwarze keine Bürgerrechte hatten. Und ausgerechnet der Lügenbaron, der die Zweifel an Obamas Geburtsurkunde am hartnäckigsten streute, folgte ihm im Weißen Haus nach. Der Ku Klux Klan feierte Trumps Sieg mit einer Triumph-Parade, genau so wie die Neonazis nach diesem tödlichen Wochenende Trump dafür lobten, dass er sie zunächst nicht verurteilte. Trump zündelt in einer extrem explosiven Atmosphäre. Es scheint, als sei Trump angetreten, nicht Amerika wieder großartig zu machen, sondern er sollte seinen Slogan ändern: Make Racism Great Again. Wenn er so weitermacht, wird Amerika entweder implodieren oder explodieren.
Amerika ist ein Schmelztiegel, das schon, aber einer, in dem die Nationalitäten nicht alle bei der gleichen Außentemperatur verschmelzen. In meiner Straße lebt kein einziger schwarzer Hausbesitzer. Den Weißen gehören die Häuser, die Latinos mähen den Rasen und putzen, und die einzigen Schwarzen, die auf der Straße zu sehen sind, sind die Obdachlosen. Das mag hart klingen, aber ich beschreibe die Realität vor meiner Haustür. »Die Hautfarbe bestimmt zu viel«, sagte Hillary Clinton. Sie »entscheidet oft, wo Menschen leben, welche Bildung sie bekommen, und, ja, auch wie sie von der Justiz behandelt werden.«
Weiße Haushalte besitzen im Durchschnitt sieben Mal soviel Wohlstand wie schwarze (und sechs Mal soviel wie Latinos). Bis heute leben zwei Drittel der Schwarzen in einkommensschwachen Vierteln, die meist mit schlechteren Schulen und weniger Erwerbsmöglichkeiten ausgestattet sind. Schwarze sind fast doppelt so häufig arbeitslos wie Weiße, das gilt sogar für Akademiker. Als ein Harvard-Professor für eine Studie Bewerbungen mit »schwarz« und »weiß« klingenden Namen verschickte, waren die Ergebnisse keine Überraschung: Die Bewerber, von denen die Firmen annahmen, sie seien weiß, bekamen bei gleicher Qualifikation doppelt so oft Einladungen für Vorstellungsgespräche. Auch viele der Hilfsprogramme für Einkommensschwache bevorteilen Weiße. Die Rassensegregation hat Amerika nie wirklich vollständig überwunden. Dass Trumps Justizminister, Jeff Sessions, sich nun darauf konzentriert, Förderprogramme für schwarze Studenten in Frage zu stellen und dafür Ressourcen für die Untersuchung rassistischer Übergriffe durch Polizisten zu streichen, gießt Öl auf einen ohnehin schon schwelenden Flächenbrand.
Denn nirgendwo wird der Rassismus deutlicher als im Justizsystem. Legt man Polizisten Fotos von Schwarzen und Weißen vor, nachdem man mit ihnen über Gewalt und Verbrechen gesprochen hat, sehen sie buchstäblich schwarz: Ihre Augen wandern automatisch zu den schwarzen Gesichtern. Das geschieht in Bruchteilen von Sekunden, unbewusst. So ist es kein Wunder, dass Schwarze zwar nur 13 Prozent der Bevölkerung stellen, aber fünf Mal so häufig verhaftet werden wie Weiße. Bei schwarzen Männern ist das Verhältnis noch krasser: Schwarze Männer stellen 6,5 Prozent der Bevölkerung, aber 40,2 Prozent der Gefängnisinsassen. Das mögen Rechtsextremisten für einen Beweis dafür halten, dass Schwarze krimineller sind, aber tatsächlich wird vor Gericht mit zweierlei Maß gemessen: Während Weiße bei kleineren Delikten oft mit Bewährungsstrafen davonkommen, werden Schwarze sechs Mal so häufig zu Haftstrafen verurteilt, und selbst bei den gleichen Delikten ist das Strafmaß im Durchschnitt für Schwarze wesentlich härter.
In ihrem bahnbrechenden Dokumentarfilm »13th« (benannt nach dem 13. Zusatzartikel der Verfassung, der die Sklavenhaltung abschaffte) zeigt die preisgekrönte schwarze Filmemacherin Ava DuVernay, wie Amerika das Sklavensystem durch das Gefängnissystem ersetzte: Ein Drittel der afroamerikanischen Männer landen heute hinter Gittern. Das heißt: ein Drittel der afroamerikanischen Familien verlieren ihre Väter und Söhne. Millionen von Menschen verlieren durch eine Verurteilung automatisch ihr Recht zu wählen und ihre Chancen auf einen guten Job. Und wer aus dem Gefängnis entlassen wird, hat erst einmal keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Wie soll sich ein frisch Entlassener ohne Jobchancen Geld verdienen?
In den amerikanischen Fernsehserien werden in den Gerichtssälen oft die dramatischen Beratungen der Jury gezeigt, aber in der Praxis ist eine Gerichtsverhandlung inzwischen die absolute Ausnahme: Ganze 97 Prozent der Gefängnisinsassen sitzen dort wegen eines Deals. Das heißt: Sie lassen sich ohne Gerichtsverhandlung auf ein Strafmaß ein, meistens, weil ihnen damit versprochen wird, sie kämen glimpflicher davon, aber auch weil sie sich gar keinen Anwalt und damit keine faire Gerichtsverhandlung leisten können. Menschenrechtsanwälte wie der renommierte New Yorker Rechtsprofessor Bryan Stevenson halten diese Praxis für »eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, die man sich vorstellen kann. Wir haben«, sagt Stevenson, »ein Justizsystem, das dich besser behandelt, wenn du reich und schuldig bist als wenn du arm und unschuldig bist.«
Das sind Fakten, aber zu diesen abstrakten Fakten und Zahlen gehören Gesichter und Geschichten – Gesichter wie die von Kalief Browder. Wer sich darüber wundert, dass Unschuldige für einen Plea Deal Verbrechen gestehen, die sie gar nicht begangen haben, muss sich nur Browders Beispiel anschauen. Im Mai 2010 lief der schwarze 16-Jährige mit Freunden in der Bronx abends nach Hause, als er von Polizisten festgenommen und des Diebstahls beschuldigt wurde. Beweise für den Diebstahl gab es keine, und der Teenager beteuerte seine Unschuld. Wenn er sich schuldig bekenne, könne er nach Hause gehen, boten ihm die Sherriffs an, aber Browder weigerte sich, auf den Deal einzugehen. »Warum soll ich mich schuldig bekennen, wenn ich nichts verbrochen habe?« Die 10.000 Dollar Kaution konnte sich seine Familie nicht leisten. Also wartete der Jugendliche unglaubliche drei Jahre im Gefängnis von Rikers Island auf sein Gerichtsverfahren, fast zwei Jahre davon in Isolationshaft – ohne Prozess, ohne Beweise, ohne Grund. Später tauchten Videos auf, die zeigen, wie der schmächtige Teenager von Gefängniswärtern und anderen Insassen verprügelt wurde. Sechs Mal versuchte er, sich umzubringen. Erst im Juni 2013 wurde der Diebstahlsvorwurf fallengelassen, Browder wurde entlassen, aber die Isolation und Gewalt im Gefängnis überwand er nie: Er erhängte sich zwei Jahre später.
Es wäre am besten, Amerika verordne sich nicht nur eine neue Nationalhymne, sondern auch ein renoviertes Rechtssystem – eines, das nicht so oft schwarz sieht.
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