»Ich habe nicht überlebt, ich gehöre zu den toten Kindern«

Mit elf Jahren wurde Ruth Klüger in das KZ Theresienstadt deportiert. Nach dem Krieg wurde sie eine berühmte Germanistin und Schriftstellerin - aber sie sagt: »Ein Teil von mir ist in den Lagern geblieben.« Ein Gespräch über Gedichte auf dem Appellplatz, die Macht des Zufalls und die Unfähigkeit zu weinen.

Ruth Klüger, 85, wurde mit dem Rufnamen Susanne geboren – und publizierte später auch unter dem Namem Ruth Angress.

Foto: Ewan Telford

Ihr Haus steht auf dem Hügel einer Akademikersiedlung in der kalifornischen Universitätsstadt Irvine. Ruth Klüger, klein und sehr zierlich, öffnet die Tür und fragt in Wienerisch gefärbtem Deutsch, ob man eine Melange mittrinke. »Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien«, sagt sie. »Mein Urschleim ist der 7. Bezirk. Der Mensch in mir hat die Augen aufgeschlagen, als ich Deutsch gelernt habe.«

SZ-Magazin: 1938 besetzten Hitlers Truppen Ihre Geburtsstadt Wien. Ab September 1941 wurden alle Juden ab sechs Jahren gezwungen, den Judenstern zu tragen. Wie haben Sie auf diese Stigmatisierung reagiert?
Ruth Klüger: Ich war zehn Jahre alt und habe den Judenstern nicht ungern getragen. Der Einmarsch der Deutschen war für mich etwas noch nie Dagewesenes, unheimlich und faszinierend zugleich. Auf der Straße sah man wegen des Judensterns auf einmal, wer zu uns gehörte. Diesen Menschen nickte man zu oder man grüßte sie. Wegen der deutschen Besatzer begriff ich mich auf kindisch-naive Weise als jüdisch und oppositionell und ließ mich nicht mehr Susanne oder Susi nennen, sondern Ruth, nach meinem zweiten Vornamen. Wie hätte ich Ihrer Meinung nach reagieren sollen?