Ich Krisengewinnler

Unser Autor lebt als Deutscher in Istanbul. Wie viele Touristen profitiert er vom Absturz der türkischen Währung. Freuen mag er sich trotzdem nicht. Denn während er reicher wird, werden alle um ihn herum ärmer. Die Innenansicht einer Währungskrise.

Der Blick über Istanbul ist für Touristen und dort lebende Ausländer oft billiger geworen, aber die Freude darüber bleibt aus.

Foto: AP

Vergangenen Monat bin ich umgezogen. Es ist eine sehr schöne Wohnung mit einer kleinen Dachterrasse, von der man über das Goldene Horn auf die Süleymaniye-Moschee blickt. Wenn man den Kopf etwas verdreht, sieht man auch die Hagia Sofia. In den vier Wochen, in denen ich hier wohne, ist meine Miete um 200 Euro gesunken. Super, Glückwunsch, will man sagen, aber so richtig freuen kann ich mich nicht.

Als ich den Vertrag Anfang Juli in Istanbul unterschrieb, bekam man für einen Euro noch etwa fünf Lira. Vergangene Woche waren es dann plötzlich sechs, dann sieben, und irgendwann auch mal acht. Jetzt steht der Kurs, ich kontrolliere ihn mittlerweile mehrmals täglich, bei 6,5. Die Türkei steckt in einer Finanzkrise, und ich werde in Euro bezahlt. Meine Miete und ein Großteil meiner Lebenshaltungskosten aber zahle ich in türkischer Lira. Ich bin also Krisengewinnler.

Dass die türkische Lira an Wert verliert, ist nichts Neues. Nur in den letzten Wochen ist daraus erst ein Absturz und dann eine Achterbahnfahrt geworden. Als ich 2016 nach Istanbul kam, bekam man für einen Euro nur drei Lira. Es war keine absurd teure Stadt wie Zürich oder Paris, aber billig war es eben auch nicht gerade. Ich überlegte mir immer zweimal, ob ich für eine halbstündige Taxifahrt zum Flughafen in einem verqualmten Auto ohne Gurt 20 Euro bezahlen, oder doch lieber die U-Bahn nehmen sollte.

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Foto: AFP

Heute denke ich darüber nicht mehr nach, und wenn ich mich anschnallen kann, gebe ich zehn Lira Trinkgeld. Ist ja nix. Ein Restaurantbesuch zu zweit mit einer Flasche Wein war früher in Istanbul in etwa so teuer wie in München. Heute kostet er die Hälfte. Für mich. Für alle anderen ist er teurer geworden. Es ist ein bitter-süßes Vergnügen. Denn während ich reicher werde, werden alle um mich herum ärmer.

Couch-Politiker und Hobbykeller-Strategen mögen sich denken: Ha, jetzt kriegt der Erdogan endlich mal die Rechnung präsentiert. Aber es trifft wie so oft in der Türkei leider die Falschen. Diejenigen, die unter der Währungskrise leiden, sind junge Leute aus der Mittelschicht. Menschen, die die jetzige Regierung hassen, oder denen sie zumindest unendlich peinlich ist. Es sind die Aufgeschlossenen, nach Westen blickenden Türken, die die ein oder mehrere Jahre im Ausland studieren, und deren Kosten sich über Nacht verdoppelt haben - oder junge Familien, die sich das Jahr auf einen Italien-Urlaub gefreut hatten. Ein Freund von mir hat gerade seinen Frankreich-Urlaub abgesagt. »Urlaub für 4000 Lira kann ich mir leisten«, sagt er. »Aber für 6000 oder 7000? Und wer weiß: Dann sitze ich am Strand und plötzlich fällt die Lira weiter, und alles wird nochmals um 1000 Lira teurer.«

Obwohl ich Krisengewinnler bin, spüre ich, was Inflation und Wertverlust von Geld bedeuten kann. Mit einem Mal wird eine feste Konstante im Leben zur Variablen. Das ist ein bisschen so wie ein Erdbeben - etwas, was immer fest war, wackelt plötzlich. Das macht Angst. In der Nacht zum Montag, als die Lira kurz auf eins zu acht gefallen war, gingen manche meiner Freunde zum Geldautomaten und plünderten ihr Euro oder Dollar-Guthaben - sie fürchteten, als nächstes würde die Regierung Devisen-Konten einfrieren.

Den Superreichen ist es ohnehin egal. Und die meisten Erdogan-Wähler? Kriegen von der Währungskrise so gut wie nichts mit. Auf die Idee, amerikanischen Whiskey zu kaufen, auf den gerade der Zoll um 140 Prozent angehoben wurde, kamen diese Leute auch vor zwei Jahren nicht. Und Urlaub in Europa war für die unteren Schichten eh nie ein Thema. Über Bayram fährt man ins Heimatdorf in Zentralanatolien. Erdogans Wähler merken höchstens, dass etwas schief läuft, wenn sich der Zwiebel-Preis wieder verdoppelt hat. Aber dadurch, dass es so gut wie keine regierungskritische Presse mehr gibt, und auch einfachere Gemüter aus dem hintersten Anatolien mittlerweile gemerkt haben, dass Donald Trump irgendwie einen an der Waffel hat, greift die Regierungspropaganda flächendeckend: Die USA haben uns den Wirtschaftskrieg erklärt, und wir müssen jetzt zusammenhalten.

Männer halten in Ankara Dollarscheine in die Kamera vor einer Wechselstube. Präsident Erdogan hatte seine Anhänger dazu aufgerufen, Devisen in türkische Lira umzutauschen, um die Landeswährung zu stützen. 

Foto: Reuters

Es ist ja nicht einmal völlig falsch. Die Währungskrise trifft gerade fast alle Schwellenländer. Weil in den USA die Zinsen steigen, fließt Geld aus riskanteren Ländern zurück in die USA. Nur Erdogan hat mit seiner Rhetorik und Sturheit alles noch schlimmer gemacht. Es kursieren Videos, in denen AKP-Anhänger Dollar-Scheine verbrannten und iPhones zerstören.

Andererseits hört man oft, Türken seien Krisen gewohnt. Die Inflation liegt mittlerweile bei 15 Prozent. Deutschland stünde in so einer Situation wahrscheinlich kurz vor dem Bürgerkrieg. Hier wird darüber gemeckert wie über drei Tage Regen: Nervt, aber ist halt so. Viele erinnern sich noch an die Neunziger Jahre: Da lag die Teuerungsrate bei 90 Prozent. Anfang der Woche sagte ein türkischer Immobilien-Unternehmer zu mir: »Krise ist in der Türkei eigentlich der Normalzustand. Die letzten 15 Jahre, in denen es relativ stabil war, waren eigentlich die Ausnahme.«

Ich befürchte eher, dass viele Menschen vor Ort noch nicht so ganz wissen, was da auf sie zukommt. An die Finanzkrise wird sich bald eine Wirtschaftskrise anschließen. Es wird zu Insolvenzen und Entlassungen kommen. Es wird dann für alle ungemütlicher werden - nicht nur für die Journalisten, Menschenrechtler und Regierungskritiker, für die die letzten Jahre ein Alptraum waren. Wie soll man sich darüber freuen?

Gerade sagte Finanzminister Olaf Scholz, dass Deutschland ein Interesse an einer wirtschaftlich stabilen Türkei hat. Dass sich die EU und die Türkei während dieser Krise wieder etwas näher gekommen sind, ist zumindest ein positiver Nebeneffekt. »Wir sind jetzt wieder Freunde«, meinte ein Taxifahrer zu mir. »Türkei und Deutschland gegen Trump! Gut!«

Trotzdem gibt es Leute, die sagen, man sollte jetzt nicht in die Türkei fahren. Damit würde man das marode Regime stützen, nur um den eigenen Geldbeutel zu schonen. Unmoralische Krisengewinnler sozusagen. Ich glaube, das Reisen immer gut ist, weil es Ideen und Gedanken von einem Land ins andere bringt. Und wenn sich viele Türken einen Europa-Urlaub nicht mehr leisten können, ist vielleicht um so wichtiger, dass die Europäer in die Türkei kommen. Es ist ein schönes Land. Und die Urlauber bringen die dringend nötigen Devisen. Ach ja, ich im Grunde auch. Heute habe ich mir einen Teppich für die Wohnung gekauft, er war 150 Euro billiger als vor drei Monaten.