Lasst die Kinder frei!

Die US-Regierung meldet einen neuen Rekord, aber keinen guten: 14 000 Flüchtlingskinder sind inhaftiert. Auch weil das für die Betreiber der Lager hochprofitabel ist.

Inhaftierte Jugendliche werden durch ein Lager in Tornillo, Texas, geführt, nahe der Grenze zu Mexiko. Betrieben werden solche Lager oft nicht von der US-Regierung, sondern von Unternehmen, die viel Geld damit verdienen.

Foto: Reuters

Der elf Jahre alte Junge hat weinend erzählt, ein älterer Junge habe ihn angegrabscht. Seine Mutter, Blanca Ortiz, konnte sich das nur am Telefon anhören: Sie wartet seit Juli darauf, dass sie ihren Sohn wiedersieht. Jetzt verklagt sie die US-Regierung. »Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich mir solche Sorgen um ihn mache«, gab sie zu Protokoll.

Das amerikanische Gesundheitsministerium, das Department of Health and Human Services, meldet einen neuen Rekord: Es hat im Augenblick rund 14.000 minderjährige Flüchtlinge unter seiner Aufsicht, darunter Babys und Kleinkinder in Windeln. Mehr als je zuvor. Zum Vergleich: Im Mai 2017 waren es 2400, damals meist unbegleitete lateinamerikanische Jugendliche, die alleine über die Grenze gekommen waren, um bei Verwandten in Amerika Unterschlupf zu finden. Seitdem sind die Zahlen so stark angestiegen, weil den Jugendlichen vor der Freilassung bürokratische Hürden in den Weg gelegt werden, außerdem kommen noch die vielen Kinder dazu, die bei der Einreise von ihren Eltern getrennt wurden.

Im Frühjahr machte Trumps »Zero Tolerance«-Politik Schlagzeilen, die Bilder von Kindern in Käfigen sorgten für weltweite Proteste. Dass sogar ein zehnjähriges Mädchen mit Down-Syndrom ihren Eltern weggenommen und eingesperrt wurde, führte zu einem Eklat. Im Juni verkündete Trump auf Druck der Öffentlichkeit, er werde die Kinder nicht mehr von ihren Eltern trennen. Damit verschwand das Thema aus den Schlagzeilen. Was aber nicht verschwand, sind die inhaftierten Kinder selbst. Tatsächlich steigen die Zahlen weiter. Ein Gericht verdonnerte die Trump-Regierung schon im Juli dazu, die bereits getrennten Kinder wieder mit ihren Eltern zusammenzubringen. Bei einigen Tausend gelang das, trotzdem sitzen aber immer noch Hunderte der in dieser Zeit von den Eltern getrennten Kinder ein, mit gravierenden Folgen.

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Einige Beispiele:

- Die amerikanische TV-Sendung 60 Minutes filmte gerade die tränenreiche Wiedervereinigung der sieben Jahre alten Litzy mit ihrer Mutter Susana. Während die Mutter schon vor Monaten aus der Haft entlassen wurde und nun in Freiheit in Virginia auf ihre Asylanhörung wartet, dauerte es drei Monate und 20 Tage, bis sie Litzy wiedersehen durfte. In dieser Zeit durfte sie nur zweimal im Monat kurz mit ihrer Tochter telefonieren und sie nicht besuchen. »Werden sie mich wieder abholen und uns wieder trennen?«, fragt Litzy.

- Weil die Lager voll sind, werden die Kinder in Zeltstädten an der texanischen Grenze, in leer stehenden Supermarkt-Filialen und Bürogebäuden ohne Betten untergebracht. Die Zeltstadt im texanischen Nest Tornillo an der mexikanischen Grenze war eigentlich für 400 Kinder gedacht, inzwischen leben dort 2400 und gerade werden 1300 neue Betten aufgestellt.

Die Betreiber der Lager stellen für minderjährige Flüchtlinge pro Nacht bis zu 780 Dollar in Rechnung.

- Zahlreiche Kinder berichteten, sie seien auf ihren Betten fixiert und gegen ihren Willen und ohne Einwilligung der Eltern mit Psycho-Medikamenten injiziert worden, um sie ruhig zu stellen. Vor allem Shiloh, eine berüchtigte texanische Einrichtung, der schon vor Jahren der gewaltsame Tod von vier Kindern und zahlreiche sexuelle Missbrauchsfälle vorgeworden wurden, steht in der Kritik. 

- Das jüngste inhaftierte Kind ist laut der gemeinnützigen Organisation RAICES, die sich der Zusammenführung der Familien verschrieben hat, zwei Monate alt. Andere Flüchtlingskinder wurden gar zur Adoption freigegeben, obwohl ihre deportierten Eltern sie gerne wieder haben möchten.

Was steckt dahinter? Erstens, Chaos. Ganz schlicht und einfach grausame Inkompetenz, denn für Eltern und Kinder sind verschiedene Behörden zuständig, die sich nur mangelhaft koordinieren. Eine Mutter aus Honduras sagte, Grenzschützer hätten ihr ihren fünf Monate alten Sohn weggenommen, während sie ihn stillte, und ihr später einen anderen Säugling wiedergebracht. Die sehen ja in dem Alter bekanntlich alle ziemlich gleich aus.

»Wenn einem im Gefängnis der Geldbeutel abgenommen wird, bekommt man dafür eine Quittung mit einer Nummer«, wütete ein Richter in El Paso, Texas. »Und hier werden Eltern die Kinder weggenommen und sie bekommen gar nichts? Nicht einmal ein Stück Papier?« Selbst wenn sie wollte, könnte die Regierung die Kinder nicht alle zu ihren Eltern zurückbringen, weil sie in unverzeihlicher Weise geschlampt hat. Manche Eltern wurden bereits wieder nach Guatemala oder Honduras abgeschoben, während ihre Kinder Tausende Meilen entfernt in 100 verschiedenen Lagern in Texas, New York oder Kalifornien feststecken.

Zweitens, Abschreckung. Ob durch Inhaftierungen oder, wie jüngst an der Grenze zu Mexiko, durch Beschuss mit Tränengas – die Trump-Regierung hat kein Problem damit, Flüchtlinge generell wie Verbrecher zu behandeln. Dabei höhlt Trump ganz bewusst ein uramerikanisches Recht aus: das Recht, um Asyl zu bitten. Er unterzeichnete eine Verfügung, die es Menschen verbietet, Asyl zu beantragen, wenn sie illegal über die Grenze gekommen sind – gleichzeitig weisen Grenzschützer Flüchtlinge an den legalen Übertrittsstellen ab. So werden nun plötzlich Zigtausende von Flüchtlingen als »kriminell« abgestempelt und strafrechtlich verfolgt, obwohl sie nichts verbrochen haben, außer aus ihrer Heimat zu fliehen. Unter Obama durften sie in Freiheit auf ihre Anhörung warten. Trump hat angekündigt, Flüchtlingsfamilien künftig zusammen einzusperren, dabei gibt es gar keine geeigneten Gefängnisse für so viele Familien. Ronald Vitiello, Direktor der Grenzschutz- und Zollbehörde ICE, hofft ganz offen: »Wir werden weniger Leute reinbekommen, die ihre Kinder mitbringen.«

Es gibt aber noch einen weiteren Grund: Die Kinder sind ein lukratives Geschäft. Viele hätten Angehörige, die in Amerika leben und sie aufnehmen könnten wie Blanca Ortiz, die nun schon seit Monaten in Freiheit auf ihre Asylanhörung wartet. Aber die Behörden machen es ihr schwerer und schwerer: immer neue zusätzliche Überprüfungen im Namen der Sicherheit, Fingerabdrücke, Gentests. »Im Juli habe ich meine Fingerabdrücke abgegeben, angeblich sind sie immer noch nicht ausgewertet«, sagt Ortiz. Wenn die Familienmitglieder selbst undokumentierte Einwanderer sind, verhaftet die ICE sie ebenfalls. Erst durch diese Verzögerungen sind die Zahlen in den Lagern so explodiert, und natürlich auch die Kosten. Die Zeitschrift Texas Monthly schätzt: Allein das Lager in Tornillo koste die Steuerzahler 100 Millionen Dollar – pro Monat!

Viele Lager sind keine staatlichen Einrichtungen, sondern werden von gewinnorientierten Unternehmen betrieben. Die stellen für minderjährige Flüchtlinge pro Nacht bis zu 780 Dollar in Rechnung. Dafür könnte man auch schon im Ritz Carlton wohnen – oder Flüchtlingen die Hilfe zukommen lassen, die sie wirklich brauchen. Die beiden größten Betreiber privater Gefängnisse, die GEO Gruppe und CoreCivic, haben Trumps Wahlkampf und Kampagnen mit Millionenspenden unterstützt, plus einer weiteren halben Million für seine Vereidigungsfeier. Schon in seinen ersten hundert Tagen stiegen die Verhaftungen um 38 Prozent – mit ihnen stiegen die Aktienkurse von GEO und CoreCivic um inzwischen 98 beziehungsweise 140 Prozent.

Als im Sommer diesen Jahres zwölf junge Burschen mit ihrem Fußballtrainer in einer Höhle in Thailand feststeckten, bewegte dies  die ganz Welt. Aber 14000 Kinder werden ohne Grund festgehalten – und niemand protestiert?