Ich stelle mir vor, ich wohne in einem Mietshaus mit vielen Wohnungen und einem gemeinsamen Garten. An der Grenze unseres Grundstücks verläuft eine Straße, und aus irgendeinem Grund verunglücken dort täglich mehrere Fahrradfahrer schwer. Keiner von uns Mietern kann etwas dafür, dass diese Menschen dort verunglücken, keiner hat sie gebeten, hier vorbeizufahren. Vielleicht sind wir sogar ausdrücklich dagegen, dass hier überhaupt jemand langfährt. Aber wäre es vorstellbar, die Nachbarn dafür zu kritisieren, dass sie in dieser Situation den Notarzt rufen? Wäre es vorstellbar, den Notarzt zu verklagen und einzusperren, weil er den verunglückten Radfahrern hilft? Wäre es vorstellbar, oben am Fenster zu stehen und zu argumentieren: Erst wenn es da unten genügend Tote gegeben hat, werden andere lernen, dass man hier nicht langfährt? Sicher nicht in einem Haus, in dem ich noch wohnen möchte.
Doch genau das passiert gerade in Europa. Plötzlich gibt es im öffentlichen Diskurs zwei unterschiedliche Meinungen darüber, ob man Menschen in Lebensgefahr helfen soll, oder ob man sie lieber sterben lassen soll. »Je mehr man rettet, desto mehr kommen doch«, das sagt man plötzlich laut und ungeniert. Der Satz hat sich von den hasserfüllten Kommentarspalten auf Facebook in die angsterfüllte Mitte der Gesellschaft geschlichen. Er wird heute in Büros ausgesprochen, auf Gartenpartys und in Parlamenten.
Derweil steht der Kapitän des Rettungsbootes »Lifeline« in Malta vor Gericht, andere Rettungsboote werden am Auslaufen gehindert. Die AfD präsentiert stolz eigene Strafanzeigen gegen weitere Helfer, etwa von »Ärzte ohne Grenzen« oder »Save the Children«. Italiens Innenminister nennt die Retter »Vizeschlepper« und schließt die Häfen für sie. Europas Populisten applaudieren dazu, und in der CSU, immerhin eine deutsche Regierungspartei, verunglimpft man diejenigen, die es lebend übers Mittelmeer und bis nach Deutschland geschafft haben, als Touristen. Seit Anfang des Jahres sind 1400 Menschen an den Grenzen der Europäischen Union gestorben, und die reichste Staatengemeinschaft der Welt und Trägerin des Friedensnobelpreises lässt kein echtes politisches Interesse daran erkennen, das Problem gemeinsam anzugehen. Der Grund dafür: Niemand hätte dabei etwas zu gewinnen, außer den ertrinkenden Menschen.
Das ist der Anfang vom Ende der europäischen Idee. Wir können uns nicht auf Menschenrechte, Aufklärung und Humanismus berufen und gleichzeitig die Rettung Ertrinkender kriminalisieren. Der kleine Stolz, den man noch vor Kurzem empfinden konnte, ein Europäer zu sein, er ist zusammen mit Tausenden Männern, Frauen und Kindern im Mittelmeer ertrunken. Während wir alle im Fernsehen, auf Twitter und Facebook nahezu live dabei zusehen können.
Es geht nicht um unterschiedliche Auffassungen, wie man mit Migranten- und Flüchtlingsbewegungen umgehen soll. Es geht nicht darum, dass man »nicht alle aufnehmen« kann. Es geht schlicht um ein Mindestmaß an Zivilisiertheit: Wer gerade dabei ist, zu ertrinken, der ist weder Flüchtling noch Migrant, der ist weder Afrikaner noch Europäer, weder Muslim noch Christ, der ist ein Mensch, der gerade dabei ist, zu ertrinken, und man muss alles unternehmen, um ihn zu retten.
Danach kann selbstverständlich jeder streng kontrollierte Grenzen fordern, die Einhaltung des Dublin-Verfahrens, Hilfe vor Ort statt »bei uns«, alles gut und richtig. Man kann sogar der Meinung sein, Flüchtlinge sollten, wenn sie es bis hierher schaffen, möglichst nicht am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen, damit sie sich bloß nicht integrieren und schnellstmöglich zurückgeschickt werden können, wenn Gerichte das so entscheiden. Menschen aber sehenden Auges ertrinken zu lassen, als abschreckendes Beispiel für andere, das ist keine Meinung. Es ist der erste Schritt in die Barbarei. Prozesse gegen diejenigen zu führen, die tausende Menschen vor dem Tod gerettet haben, ist der zweite Schritt dorthin. Den dritten möchte ich mir lieber nicht vorstellen.