Meine erste Begegnung mit Muammar al-Gaddafi fand im April 1986 statt. Nachts um drei hatten mich ein paar Männer aus meinem Hotel abgeholt, der »Führer« wolle mich sehen. Dass er ausgerechnet mit mir, einer jungen amerikanischen Journalistin, sprechen wollte, war ein klassischer Gaddafi, eine seiner Launen, denen jeder in
Libyen gehorchen musste. Ein Auto fuhr mich durch die menschenleeren Straßen von Tripolis zu seinem Hauptquartier. Als sich die Tore hinter mir schlossen und ich im Dunkeln die Konturen von Panzern erkannte, dachte ich: Hier kommst du nur wieder heraus, wenn er es erlaubt.
Ich war nervös. Gaddafi hatte in Berlin einen Bombenanschlag auf die Diskothek »La Belle« verüben lassen, die vor allem von amerikanischen Soldaten besucht wurde. Nun wollte Ronald Reagan, der Gaddafi als »tollwütigen Hund« beschimpft hatte, Vergeltung. Vor der libyschen Küste kreuzte die amerikanische Mittelmeer-Flotte. Der Gegenschlag konnte jeden Augenblick beginnen.
Ich wurde von jungen Frauen in Empfang genommen, die enge Tarnuniformen, Stöckelschuhe, Make-up und Pistolen trugen. Sie führten mich in einen Kellerkomplex und setzten mich in einen Raum mit einem großen Schreibtisch und einem Sofa. Die Tür ging auf. Herein kam Gaddafi, rotes Seidenhemd, weiße Pyjamahosen, Slipper aus Eidechsenleder, goldfarbenes Cape. Er schloss die Tür ab, steckte den Schlüssel in seine Tasche und sagte: »Ich bin Gaddafi.«
Es wurde ein verrücktes Interview. Dauernd wollte er mein Tonband ausmachen; er sei müde, wolle lieber über etwas anderes als über Politik reden. Irgendwann fragte ich: »Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass Reagan einen bombardieren will?« – »Von wem haben Sie das?«, fragte er. Ich vergab meine Chance, für eine Journalistin mit hochrangigen Quellen gehalten zu werden, und antwortete: »Das habe ich in der BBC gehört.« Er stand auf, ging zum Radio und stellte den Sender ein. Es war klar, dass er in einer Blase lebte. Libyen befand sich im Zentrum einer internationalen Krise, aber er saß allein in seinem Bunker und war auf das Radio angewiesen, um Neuigkeiten zu erfahren.
Während der Krise im April 1986 habe ich einige Male mit Gaddafi gesprochen. Außer Fahrern und Wachen habe ich nie jemanden gesehen, nie hörte ich Geräusche aus der Außenwelt. Einmal hatte ein Bodyguard grüne Schuhe für mich bereitgelegt. Ich wusste zwar, dass Grün Gaddafis Lieblingsfarbe war – aber grüne Schuhe für eine Journalistin?
Am 11. April wirkte er ernster als sonst. Er sagte, er habe sich dazu entschlossen, die libysche Gegenattacke auf »ganz Südeuropa« auszudehnen. Penibel ging er mit mir ein Communiqué durch, wollte von mir wissen, wie die Reagan-Regierung darauf reagieren würde. Vier Nächte später startete ein Geschwader von F-11-Kampfjets, um Gaddafis Hauptquartier und andere Ziele zu bombardieren.
Ein Jahrzehnt später, als Madeleine Albright Bill Clintons Außenministerin war, bat mich Gaddafi am Ende eines Interviews, ihr etwas auszurichten. Ich witterte einen journalistischen Coup: Der tollwütige Hund bittet Washington um Frieden. Stattdessen sagte er, er habe sich in »Madeleine« verliebt. Er sah sich jeden ihrer Fernsehauftritte an und war genervt, wenn die Kameras nicht ihr ganzes Gesicht zeigten. Dass sie in ihren Sechzigern und keine Schönheit mehr war, schien ihn nicht zu stören. Könnte ich ihm ihre Nummer besorgen, am besten jene für das Telefon neben ihrem Bett? Und sie bitten, bei ihrem nächsten Fernsehauftritt etwas Grünes zu tragen, falls sie für ihn dasselbe empfinde wie er für sie?
Irgendwann muss er seiner Liebe untreu geworden sein. Kürzlich, nach der Einnahme Tripolis’, fand man in Gaddafis unterirdischem Reich ein ganzes Album mit Fotos von Condoleeza Rice, George W. Bushs Außenministerin.
Manchmal kam mir Gaddafi wie ein Schauspieler vor. Er inszenierte sich als Beduine, Leutnant, Revolutionär, Araber und Afrikaner, Nationalist und Sozialist, Muslim und Dichter, und für jede seiner Rollen hatte er das passende Outfit. Am besten gefiel er sich in der Rolle des Philosophenkönigs, der seine Ideen in einem »Grünen Buch« festhielt, Banalitäten von der Art: »Ein Mann ist männlich, und eine Frau ist weiblich.« Sie beruhten auf seiner »Dritten Universaltheorie«, mit der er niedergekommen war, nachdem er wochenlang in einem abgedunkelten Raum nachgedacht hatte. Als Tony Blairs New Labour den »Dritten Weg« verkündete, drohte Gaddafi mit einer Plagiatsklage.
Gaddafi gierte nach internationaler Anerkennung, doch die Großmächte hielten Libyen nicht für wichtig genug, um sich mit ihm zu beschäftigen. Also gab er Millionen dafür aus, antiwestliche Terroristen zu unterstützen, um endlich Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch erst nach dem Anschlag auf »La Belle« beschloss Washington, Gaddafi die Grenzen aufzuzeigen.
Nachdem er den Vergeltungsangriff der Amerikaner überlebt hatte, ließ Gaddafi in Tripolis eine »Siegesparade« veranstalten, zu der er auch westliche Pazifisten eingeladen hatte. Sie mussten vom Straßenrand zusehen, wie Pfadfinder vorbeimarschierten, die lebende Hühner und Kaninchen trugen. Sie schienen sich liebevoll um die Tiere zu kümmern – bis sie sie mit bloßen Händen auseinanderrissen und ihre Zähne in das rohe Fleisch schlugen. Die Friedensfreunde aus dem Westen liefen schreiend davon.
Bei unseren Treffen wurde Gaddafi immer exzentrischer. Einmal hatte ich mich nach einem nächtlichen Interview schlafen gelegt, als es plötzlich heftig an der Hotelzimmertür klopfte. In der Tür stand eine große Frau in Krankenschwesteruniform, von einem Mann begleitet, der ihr gerade bis zur Hüfte reichte. Gaddafi habe den Eindruck, dass ich an Erschöpfung leide, sagte er, und mir deswegen seine persönliche Krankenschwester geschickt. Die Frau zückte eine riesige Spritze und sagte: »Ich Bulgarin. Ich nehme Blut?« Sie solle anderntags noch einmal kommen, entgegnete ich, jetzt sei ich zu müde. Am nächsten Morgen stieg ich in das erste Flugzeug, das Tripolis verließ, ich wusste ja, wie ungesund es sein konnte, sich einem Befehl des libyschen Führers zu widersetzen. Bei meinem nächsten Besuch war ich nervös, doch Gaddafi amüsierte sich prächtig: »Können Sie sich noch daran erinnern, wie ich Ihr Blut haben wollte?«
Das letzte Mal habe ich ihn vor ein paar Monaten gesprochen – als die Libyer schon beschlossen hatten, ihn endlich loszuwerden. »Mein Volk liebt mich«, versicherte er. Glaubte er das wirklich? Ich sah in seine Augen, doch ich konnte keinen Zweifel erkennen. Und doch muss er geahnt haben, dass seine Welt gerade zerbrach.
Foto: Reuters