Bei Pater Modistis auf Athos

In der Klosterrepublik leben die Mönche nicht in einer anderen Zeit, aber völlig anders als der Rest der Welt. Ein idealer Zufluchtsort für junge Griechen, die genug von der Krise haben.


Das Kloster Konstamonitou besitzt einen eigenen kleinen Hafen (links). Von dort läuft man zwischen Oliven- und Pinienhainen einen Schotterweg hinauf und erreicht nach einer guten Stunde den Klostervorplatz, auf dem ein großer Walnussbaum steht.

Es ist der Tag Ende September, an dem die griechische Regierung zum fünften Mal innerhalb eines Jahres die Steuern erhöht hat. Neben mir auf dem Fährschiff Heilige Anna sitzt Vassilis. 27 Jahre alt, mit 18 Wehrdienst geleistet, mit 24 das Betriebswirtschaftsstudium in Athen abgeschlossen, seit Beginn der Krise vor zwei Jahren arbeitslos. Wir sind auf dem Weg zum Kloster Konstamonitou auf dem »Agio Oros«, dem »Heiligen Berg« der christlich-orthodoxen Mönchsrepublik Athos. Entlang der Küste tauchen hinter Buchten immer wieder griechische und auch russische Klöster auf, die an den grünen Kuppeln zu erkennen sind. Aber das Ungewöhnlichste beim Anblick der – für griechische Verhältnisse – dicht bewaldeten Landschaft sind nicht Klöster, grüne Kuppeln oder sich drehende Windmühlenflügel. Es sind die kilometerlangen Strände. Sie sind menschenleer.

Geografisch gehört der Agio Oros zur Provinz Zentralmakedonien in Nordgriechenland, aber seit Mönche vor mehr als tausend Jahren eine eigene Verfassung auf die Haut eines Ziegenbocks schrieben, ist die Halbinsel autonomes Gebiet, selbst Griechen müssen ein Visum für einen Besuch beantragen. Auf der Bockshaut steht auch, dass Frauen keinen Zutritt haben. »Avaton« heißt dieser Passus, der festlegt, dass auf dem Agio Oros als einzige Frau die Gottesmutter Maria sich aufhalten darf. Als ich Vassilis auf der Fahrt erzähle, dass ich aus Deutschland gekommen bin, sagt er mit einem Lächeln: »Wir fahren gerade zum einzigen Ort in Europa, wo deine Kanzlerin keinen Zugriff auf mich hat.«

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Vassilis hat in den vergangenen Monaten schwarz für zwei Euro die Stunde als Straßenfeger gearbeitet, als Kellner, als Touristenführer. Aber der Sommer ist vorbei. Den Winter will er im Kloster verbringen, wieder zu sich selbst finden, abschalten. »In Athen«, sagt er, »war meine Unsicherheit groß. Ich wusste nicht mehr, wovon ich leben soll.« Die Steuern, die offenen Rechnungen, die Krise, die Arbeitslosigkeit, die Streiks – all das rückt mit dem brummenden Bootsmotor immer weiter weg. Seine Mutter ist vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sein Vater ist Elektriker, arbeitslos. Der jüngere Bruder wohnt bei der Großmutter. »Wir stecken alle tief in der Scheiße«, sagt Vassilis. Es ist nicht ganz klar, ob er von seiner Familie spricht – oder einfach von allen Griechen.

Das Kloster Konstamonitou ist das ärmste und gleichzeitig traditionellste auf dem Agio Oros. Seit mehr als tausend Jahren liegt es inmitten eines Zypressen- und Walnussbaum-Waldes. Ein Packesel vertreibt am Gartentor kopfschüttelnd Fliegen, Kater streunen umher, ein Mönch sitzt in seiner dunklen Kutte in der Sonne auf einer Bank und schnitzt einen Wanderstock. Im Kloster gibt es keinen Strom, kein warmes Wasser, sechs Plumpsklos für etwas mehr als vierzig Mönche. Rauchen ist nicht erlaubt, Handys auch nicht. Zur Begrüßung erhalten wir vom Klostervorsteher Pater Andreas ein Glas Tsipouro (doppelt gebrannter Schnaps) und ein Loukoumi (einen
süßen Geleewürfel). Er fragt nach unseren Namen, woher wir kommen und was wir glauben, hier finden zu können. Vassilis erzählt seine Geschichte.

Wie alle Mönche trägt Pater Andreas einen langen, leicht ergrauten Bart. Seit mehr als 35 Jahren lebt er auf dem Agio Oros, vorher war er Grundschullehrer in Athen. Er hat schon viele Geschichten gehört: von Männern, die nach einer Scheidung hier Ruhe fanden. Von Dieben, Drogenabhängigen und Mördern, die Zuflucht oder Vergebung suchten. Von Aussteigern, Gläubigen und Verzweifelten. »Doch die Wucht, mit der uns diese Krise trifft, ist stärker als alles andere zuvor«, sagt er. Allein im September hatte Pater Andreas auf seinem Schreibtisch mehr als 400 Anträge von jungen Griechen, die den Winter im Kloster verbringen wollten. »Aber wir haben nur 30 bis 35 Gästebetten.« Mehr kann das Kloster nicht versorgen. Mehr gibt der eigene Anbau von Tomaten, Auberginen, Brokkoli, Kopf- und Krautsalat, Paprika, Zucchini und Kartoffeln auch nicht her. Nach einer kurzen Pause, in der er seine braune Hornbrille abnimmt, um seine Nasenwurzel zu reiben, fragt er Vassilis: »Glaubst du an Gott?« Vassilis nickt. »Hast du in Athen einen Beichtvater, dem du vertraust?« Vassilis schüttelt den Kopf. »Verstehe«, sagt Pater Andreas, »habe keine Furcht, hier bist du erst mal sicher.« Vassilis lächelt. Dann weist uns Pater Andreas unsere Schlafplätze zu.

Die Mönche des Klosters Konstamonitou leben nicht nur abgeschirmt von der Außenwelt, sie leben auch nach einer anderen Zeitrechnung. Die Tage werden nach dem Julianischen Kalender gezählt, der gegenüber dem europäischen, Gregorianischen Kalender um 13 Tage nachgeht. In unserem Zimmer stehen fünf frisch bezogene, etwa 80 Zentimeter breite Betten, ein kleiner Tisch, ein Stuhl. Vor dem Fenster ein alter Holzofen. Das Rohr ist mit Aluminiumpapier umwickelt, es endet in einem Loch im Oberfenster.

Der Tag beginnt um drei Uhr dreißig in der Früh mit Klopfen an der Tür. »Zeit aufzustehen«, höre ich eine Stimme rufen, dann immer leiser werdende Schritte auf dem Dielenboden. Um vier ist die erste von zwei Messen am Tag. Die Mönche zünden überall in der Klosterkirche Öllampen an, doch es bleibt schummrig, man erkennt Umrisse, die dunklen Kutten zum Beispiel, aber die Gesichter bleiben verborgen. Abwechselnd singen zwei Mönche Psalme, Vassilis und ich bekreuzigen uns, neigen die Köpfe, während sich die Oberkörper der Mönche bis auf den Boden beugen. Fast zwei Stunden dauert die Morgenliturgie, der Geruch des Weihrauchs lässt einen bei leerem Magen fast high werden. »Antidoro« heißt das gesegnete Stück Brot, das man zum Abschluss empfängt. Dann geht es in den Speisesaal, Frühstück: ein Glas warmer Tee, der hervorragend schmeckt, und ein harter Keks, der einem die Kronen aus dem Gebiss bricht, wenn man ihn nicht vorher in den Tee tunkt.

Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, keiner spricht ein Wort. Ich habe immer noch den Weihrauch in der Nase und denke schlaftrunken an meine Zeit als Ministrant zurück. Ich war elf, zwölf Jahre alt und liebäugelte damit, Priester zu werden. Wein trinken, predigen, ein bisschen Trost spenden. Das könnte ich auch, dachte ich damals. Und es ist erstaunlich, dass mir der Gedanke erst jetzt kommt, im kargen Speisesaal des Klosters zwischen all den Mönchen und Eremiten, aber wie oft habe ich in meinem Leben anderen Menschen Trost gespendet? Warum habe ich bisher kein einziges tröstendes Wort für Vassilis gefunden?

»Wann hast du das letzte Mal etwas Sinnvolles getan?«


Im Garten pflückt Pater Modistis Tomaten.

Nach dem Frühstück können sich Besucher wieder ins Bett legen, die Mönche aber beginnen mit ihrem Tagwerk. Einige gehen in den Garten, der rings um das Kloster angelegt ist, um Tomaten zu pflücken. Manche sind zum Küchendienst eingeteilt. Andere reparieren undichte Fenster oder Türen. Vassilis meldet uns zum Holzhacken an.

Pater Modistis erklärt uns unter einem riesigen Walnussbaum, dass das Holz des Olivenbaums fast doppelt so lange brennt wie anderes Holz. Er streichelt einen krummen Ast. Der Olivenbaum sei ein Gottesgeschenk, sagt er. Er gibt uns jeweils ein scharfes Beil in die Hand und zeigt auf einen mannshohen Haufen: »Spaltet dieses Holz, solange ihr könnt.« Dann geht er. Ich zeige Vassilis den Vogel. »Warum gerade Holzhacken?«, frage ich. Aber Vassilis hat schon einen Holzblock auf einen noch breiteren Stamm platziert und holt aus. »Reg dich nicht auf«, antwortet er. »Das ist ein sinnvoller Job. Wann hast du das letzte Mal etwas Sinnvolles getan?«

Verdutzt schaue ich ihn an. Das ist schon die zweite Frage an diesem frühen Morgen, die mich ins Grübeln bringt. In den nächsten eineinhalb Stunden schaue ich hin und wieder zu Vassilis rüber, vergleiche unsere Haufen gespaltener Holzscheite (seiner ist natürlich größer) und stelle fest, dass Vassilis eine goldene Halskette mit einem Kreuz um den Hals trägt. Ein ähnliches trage ich auch. Viele Griechen tragen das. Meines hat mir mein Vater geschenkt.

»Wo hast du das her?«, frage ich und zeige auf meine Halskette.
»Von meiner Mutter«, antwortet er. »Sie war eine sehr gläubige Frau.«
»Gott sei ihrer Seele gnädig«, höre ich mich sagen. Diesen Satz habe ich seit Jahren nicht mehr gesprochen, und plötzlich ist er da. Als würde ich ihn ständig gebrauchen. »Wann ist sie gestorben?«
»2004.« Vassilis schaut mich an und rammt nach ein paar Sekunden das Beil in den Stamm. »Ich war in einem Café und schaute mir das Halbfinale der Fußballeuropameisterschaft Griechenland gegen Tschechien an, da rief mein Vater an. Es war so laut, ich konnte ihn nicht verstehen, schrie ins Telefon: ›Ich ruf dich später an!‹ Und legte auf.«
»Und dann?«
»Dann? Nichts. Ich schaute das Spiel, wir gewannen 1:0, und ich bin mit meinen Freunden feiern gegangen. Als ich frühmorgens wieder auf mein Handydisplay schaute, hatte ich 150 entgangene Anrufe.«

Ich habe immer noch das Beil in der Hand, spüre aber, wie es schwerer und schwerer wird. Ein tröstendes Wort, ein tröstendes Wort.
»Während ich die griechische Nationalmannschaft feierte und einen Whisky nach dem anderen soff, starb meine Mutter«, sagt Vassilis schließlich. Er hat Tränen in den Augen.
»Scheiße«, sage ich. Und: »Tut mir leid.« Etwas Besseres kommt mir nicht in den Sinn.

Urplötzlich, wie aus dem Nichts, steht Pater Modistis neben uns, ein Tablett in den Händen, darauf zwei kleine Tassen mit griechischem Mokka. »Alles in Ordnung bei euch?«, fragt er. Vassilis wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ja, Pater«, sagt er.
»Ich habe euch Kaffee mitgebracht. Und wenn ihr eine Zigarette dazu rauchen wollt: Ich habe nichts gesehen!«

Mittlerweile ist es elf Uhr morgens. Bis auf das Knacken des gespalteten Holzes ist es still. Kein Auto- oder Flugzeuglärm, keine Musik vom Nachbarn, nicht einmal die Grillen zirpen.

Als Vassilis seine Ärmel hochkrempelt, sehe ich das Tattoo auf seinem Unterarm. »MARIA« steht da in altgriechischer Schrift. Der Name seiner Mutter. Der Name der heiligen Mutter Gottes. »To perivóli tis Panagías« wird der Agio Oros auch genannt: der Garten der Gottesmutter.

Nach der Kaffee- und Zigarettenpause führt uns Pater Modistis in ein Gewölbe. Der Geruch des bis an die Decke gestapelten Brennholzes liegt schwer in der Luft, es riecht nach Oliven. Bis Mitte November müssen die Mönche das Gewölbe gefüllt haben. Zwar fällt, außer auf dem Gipfel, kaum Schnee auf dem Athos, aber Temperaturen um den Gefrierpunkt sind im Winter nichts Außergewöhnliches, sogar in den Räumen des Klosters.


Innenhof: Rechts oben im dritten Stock befindet sich das Büro des Klostervorstehers Andreas. Dort begrüßt er seine Gäste mit einem Glas Schnaps (»Tsipouro«) und einem leckeren Geleewürfel (»Loukoumi«).

Zum Mittagessen gibt es gebratene Kartoffeln mit Spiegeleiern, einen Brokkolisalat und eine gefüllte Tomate mit Reis. Leider nehmen die Mönche ihr Essen fast immer kalt zu sich, denn bevor es zu Tisch geht, steht die zweite Messe in der Klosterkirche an, die niemand verpasst. Auch die zur Küchenarbeit eingeteilten Mönche nicht. Daher stellen sie das Mittagessen immer schon vorher auf den Tisch.

Für den Nachmittag haben Vassilis und ich eine Wandertour zu einer hoch gelegenen Kapelle beschlossen. Während ich meine Kamera und eine Flasche Wasser einpacke, zieht sich Vassilis eine dunkle Mönchskutte über. Als er meinen überraschten Gesichtsausdruck sieht, sagt er: »Die hat mir Pater Modistis geschenkt.« Erst jetzt wird mir wirklich klar, wie langfristig Vassilis seinen Aufenthalt auf dem Agio Oros geplant hat. Auf dem Weg zur Kapelle sprechen wir kaum ein Wort. Manchmal denke ich an den dummen Spruch: Kleider machen Leute.

Oben angekommen stehen wir vier-, fünfhundert Meter über der Küste. Vassilis geht in die Kapelle, bekreuzigt sich, küsst die Ikonen der heiligen Muttergottes und des Jesuskinds, und als er wieder herauskommt, habe ich das Gefühl, er wäre jemand anderes. Erst jetzt bemerke ich den Rosenkranz mit den schwarzen Stoffperlen um seine Hand gewickelt. Er hat auf dem Weg hierher tatsächlich die ganze Zeit gebetet. Wir blicken zusammen aufs Meer, die Sonne scheint, der böige Wind klatscht uns ins Gesicht. Vassilis lächelt.

»Worüber lachst du?«, frage ich ihn. Und er zeigt hinüber auf die andere Seite der Halbinsel Chalkidiki, auf Sithonia, auf Griechenland, das von hier oben gut zu erkennen ist, und sagt: »Ich bin so froh, das alles hinter mir gelassen zu haben. Kyrie, eleison.« Herr, erbarme Dich.

Kontakt: Das Visum (25 Euro) beantragen beim Büro der griechisch-orthodoxen Kirche in Thessaloniki, Tel. 0030/2310/25 25 75, Fax 0030/2310/22 24 24. Ticket für die Schifffahrt von Ouranoupolis zum Agio Oros direkt am Hafen kaufen (12 Euro). Kost und Logis in jedem der 20 Klöster auf Athos frei. Kloster Konstamonitou, Tel. 0030/23 77/02 32 28.

Illustrationen: Serge Bloch