Sarah Wiener, 56, Köchin, Unternehmerin, Imkerin
»An einem Wochenende vor ungefähr dreißig Jahren habe ich in einem Berliner Off-Kino einen Schwarz-Weiß-Dokumentarfilm über Georgien gesehen – von einem Wandermaler, der mit seiner Staffelei auf dem Rücken über die Dörfer zog, um bestimmte Motive auf die Häuser der Bauern zu malen. Die Erinnerung hat sich verklärt zum Gefühl einer fast verschwundenen Welt. Einer Landschaft, wo keine Autos fahren, sondern Pferde- oder Eselskarren, und wo Menschen einfache Trachten tragen. Eine wahnsinnig schöne, dramatische Natur. Ich warte noch auf einen Georgier, der sagt: Komm mit, es hat sich viel geändert, aber ich kenne da noch ein paar Bergdörfer.«
Bas Kast, 46, Wissenschaftsautor
»Namibia, die Wüste. Ich weiß nicht genau, woher dieser Traum kommt. Ich schließe die Augen und sehe die karge Landschaft vor mir, rot, hügelig, unendlich weit. Ich kann fast spüren, wie ich im Sand stehe, und alles, was sonst meine Aufmerksamkeit viel zu sehr in Anspruch nimmt, Facebook, Internet und die ganzen Kleinigkeiten, all das ist weit weg. Ich stehe dort, barfuß, an einem Ort, wo es kaum etwas gibt, was wir geschaffen haben, sondern umgekehrt: Dieser Ort, Afrika, das ist die Landschaft, die uns, den Menschen – mich – hervorgebracht hat. Werde ich jemals hinkommen? Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Was hält mich eigentlich davon ab?«
Claudia Roth, 63, Grünen-Politikerin
»Politik, das ist häufig Hektik und Kleinstarbeit, Verhandlungen um die Ausnahme von der Ausnahme, nicht selten auch Konflikt. Wenn ich merke, dass ich mich darin zu verlieren drohe, denke ich mich manchmal an einen fernen Ort. Ich stelle mir eine weite Ebene vor, ummantelt vom tiefen Blau des Nachthimmels, mit klarem Blick auf die Sterne. Und plötzlich ist er wieder da, dieser Widerspruch, der mich in meiner Arbeit antreibt: Ja, wir sind unendlich klein, und doch tragen wir erhebliche Verantwortung für unseren Planeten und die Menschen, die uns umgeben. Sollte ich eines Tages herausfinden, ob diese Ebene tatsächlich existiert, gebe ich Bescheid. Andernfalls bleibt sie eben das: Sehnsuchtsort.«
Dendemann, 44, Rapper
»Mein Sehnsuchtsort kommt aus meiner Jugend. Zwischen 14 und 19, ungefähr von 1989 bis 1994, habe ich gefühlt nichts anderes gemacht als Skateboard zu fahren und mir Skater-Videos anzuschauen. Da gab es so einen wahnsinnigen Skatespot in San Francisco, das EMB, Kurzform für Embarcadero, so hieß die Straße. Ein roter Backsteinplatz mit unglaublich vielen Stufen in allen Varianten. Dort tummelte sich die gesamte Profiszene, da drehten sie die Videos, die wir uns im Sauerland anguckten. Einmal dort zu skaten, das war mein Traum. Im Jahr 2000 war ich dann für die Arbeit in San Francisco. Endlich. Ich wollte direkt zum EMB. Aber den Skatepark gab es nicht mehr. Heute steht da ein großes Einkaufs-zentrum. Ich habe meinen Sehnsuchtsort verpasst.«
Sebastian Fitzek, 47, Thriller-Autor
»Mein größter Sehnsuchtsort ist die Antarktis. Ein Ort wie ein fremder Planet auf unserem Planeten. Die faszinierende Landschafts- und Tierwelt, die man nur aus dem Discovery Channel kennt. Wahrscheinlich hat mich Mitte der Achtzigerjahre der Film Das Ding aus einer anderen Welt von John Carpenter beeinflusst. Als Thriller-Autor bin ich natürlich auch von einer unheimlichen, einer feindlichen Welt angezogen. Ich stelle es mir gemütlich vor, in einer Polarstation zu sitzen, während die unbezähmbare Natur um einen rumpfeift, dabei nach draußen zu gucken, ein gutes Buch in der Hand. Ob ich mich jemals in die Antarktis traue? Viele Fragezeichen. Allein schon meine Seekrankheit. Und wäre es ökologisch überhaupt vertretbar? Wenn meine Anwesenheit mehr Schaden für die Umwelt bringt als Nutzen für mich, würde ich es lassen.«
Wolfgang Beltracchi, 68, Maler und Kunstfälscher
»Meinen Sehnsuchtsort fand ich im Alter von etwa zehn Jahren. Während eines Ferienaufenthalts bei niederländischen Verwandten besuchte ich mit den Tanten das Rijksmuseum in Amsterdam. In den prachtvollen Räumen zog mich ein kleines Gemälde an: ein Dorf in einer Winterlandschaft. Das Bild heißt Schlittschuhläufer in einem Dorf, gemalt um 1610 von Hendrick Avercamp. Auf einer zugefrorenen Wasserfläche vergnügen sich Menschen, gekleidet in seltsame Kostüme. Die faszinierenden Schlittschuhläufer ließen mich nicht los. Ich spürte die Kälte des Windes, hörte das Flattern der Wimpel, das Scharren der Kufen auf dem Eis und das Bellen eines Hundes, der hinter einem Puck herjagte. Blieb ich nur wenige Minuten oder Stunden dort bei den Menschen auf dem Eis? Ich weiß es nicht mehr. Seither sind viele Jahrzehnte vergangen. Ab und an kehre ich zurück und lasse mich vom bunten Treiben der Menschen fortziehen, in eine andere Zeit, an einen geheimnisvollen Ort.«
Janosch, 88, Zeichner und Autor
»Ich sehne mich nicht nach Orten, die ich nicht erreichen kann oder die es vielleicht gar nicht gibt. Das ist der Trick. Oder Tick.«
Oliver Pocher, 41, Komiker und Moderator
»Der Gipfel des Mount Everest. Der höchste Punkt der Erde fasziniert mich seit zehn Jahren. Die Tatsache, dass man da oben nicht einfach sagen kann: Jetzt hab ich keine Lust mehr, ich geh mal runter. Mangelnde Fitness kann ich, glaube ich, mit Willen wettmachen. Im Sommer besteige ich jetzt immerhin mal mit Freunden den Kilimandscharo, das wird der verrückteste Junggesellenabschied aller Zeiten. Danach sage ich entweder ›Auf geht’s zum Nächsten‹ oder ›Lass es mal einen Traum sein‹.«
Collien Ulmen-Fernandes, 37, Fernsehmoderatorin und Autorin
»Schweden! Auf der einen Seite soll die Natur dort fantastisch sein, und auf der anderen Seite gilt Schweden als Vorzeigeland für Geschlechtergerechtigkeit. Bereits im Kindesalter werden sämtliche Geschlechterklischees über den Haufen geworfen und in genderneutralen Kindergärten Malbücher ausgemalt, in denen zum Beispiel Batman mit Babytragetasche Ballett tanzt. Ja, auch als Superheld muss man sich Gedanken über die Vereinbarkeit von Kind und Hobby machen. Kein Wunder, dass man auf schwedischen Spielplätzen Kinderwagen schiebende Männer und Frauen gleichermaßen antrifft. Ich würde gern mal in Schweden spüren, wie sich echte gelebte Gleichberechtigung anfühlt.«
Alfons Schuhbeck, 69, Koch und Entertainer
»Als ich 17 und Hobby-Gitarrist in der Traunsteiner Band Die Scalas war, verkörperte Elvis Presley meine musikalische Sehnsucht. Mein Sehnsuchtsort war jede Bühne, auf der er mal gestanden hatte. Nach der Lehre zum Fernmeldetechniker wollte ich mein Heil in der Musik suchen. Doch dann verschlug es mich in die Gastronomie. Meine Begeisterung für Elvis erschöpfte sich vorläufig darin, ihn auf meiner Musikanlage zu hören, für die ich wahnsinnige 5000 Mark Schulden gemacht hatte. Ich war wild entschlossen, seinetwegen nach Memphis oder Las Vegas zu fliegen. Aber immer kam etwas dazwischen. Als er 1977 starb, nahm ich mir fest vor, wenigstens sein Geburtshaus in Tupelo und sein Grab in Graceland zu besuchen. Es blieb bis heute beim guten Vorsatz. Mittlerweile drückt sich meine Wertschätzung für ihn vor allem in dem aus, was ich nicht tue: Wenn ich bei den Veranstaltungen in meinem ›teatro‹ selbst etwas singe, dann nie etwas von Elvis.«
Gregor Gysi, 71, Linken-Politiker
»Seit vielen Jahren träume ich davon, einmal nach Costa Rica zu fahren. Ich stelle mir vor, dass ich den Urwald besuche. Ich möchte dort irgendwo übernachten. Die ganze Nacht kann ich nicht schlafen, weil Geräusche von Tieren ausgehen, die man sich hier in Europa nicht vorstellen kann. Dann gehe ich an einen Strand und sehe Riesenschildkröten. Und abends möchte ich sehr gut essen.«
Julia Klöckner, 46, Bundeslandwirtschaftsministerin
»Früher war mehr Schnee, heißt es oft. Gefühlt würde ich dem zustimmen, aber wirklich erinnern kann ich mich nur an zwei, drei intensive Schlittenwinter in meiner Kindheit. Das unendliche Weiß fasziniert mich. Seit ich als Jugendliche im Fernsehen eine Dokumentation über die Antarktis gesehen habe, hat sie eine ungewöhnliche Anziehung auf mich. Mein Traum ist eine Pol-Expedition, an den Ort der Pinguine, Robben, Wale und Orcas. Die Mitternachtssonne, die über Wochen hinweg nicht untergeht. Dann die lange Polarnacht. Ich glaube, irgendwann werde ich es wagen – mich einlassen auf die extreme Kälte, die Abgeschiedenheit. Kein Handy, kein Außenkontakt. Natur in ihrer extremen Form.«
Rufus Beck, 61, Schauspieler
»Mein Sehnsuchtsort ist Hollywood. So geht es ja wahrscheinlich den meisten Schauspielern. Einmal dort engagiert zu werden! Ich bin jetzt 61, seit vierzig Jahren stehe ich auf der Bühne. Seitdem träume ich von der Traumfabrik. Als Kind habe ich die Pat HobbyStories von F. Scott Fitzgerald gelesen. Darin geht es um den erfolgreichen Drehbuchautor Pat Hobby, dem irgendwann der Erfolg abhandenkommt. So stelle ich mir Hollywood vor, nirgendwo liegen Erfolg und Scheitern so eng beieinander. Dass ich in Europa sehr gut beschäftigt bin, bringt mir dort drüben nichts. Mein Freund Anthony McCarten, der Drehbuchautor von Bohemian Rhapsody, redet seit Jahren auf mich ein, es einfach mal in Los Angeles zu probieren. Ich müsste nur ein Ticket buchen, mir ein paar Monate freihalten und versuchen, dort Kontakte zu knüpfen. Irgendwann traue ich mich, das weiß ich.«
Ulla Hahn, 72, Schriftstellerin
»Pastrana. Das ist mein Sehnsuchtsort, seit ich vor Jahrzehnten den Roman Jene Dame von Kate O’Brien gelesen habe, die Geschichte der Fürstin Eboli, ›jener Dame‹, die am Hofe Philipps II. eine bedeutende Rolle spielte und dann von diesem König in die Verbannung geschickt wurde – eben nach Pastrana. Ich würde Ana de Mendoza, so der Name dieser außerordentlichen Frau, aufsuchen, im Schloss auf ihrem Landgut. Dort starb sie, nachdem der König sie verbannt hatte, in einem winzigen Zimmer, ohne Bücher, ohne Bilder, vermauert, ohne Tageslicht und Lüftung, in völliger Verwahrlosung. Ich traf sie zum ersten Mal, kurz nachdem ich den Roman aus einer Bücherkiste auf der Straße befreit hatte. Seither treffen wir uns immer wieder, meist bei mir in Hamburg, und sie führt mir dann ihre Heimat so lebendig vor Augen, dass sie längst bis in meine Träume wahr wurde. Aber dorthin fahren? Wozu? Solange mir meine Begegnungen im Kopf nicht langweilig werden, warum sollte ich sie gegen die Realität eintauschen? Vielleicht, wenn ich Philipp II. als Reisebegleiter gewinnen könnte. Der sollte seine heimliche Herzensgeliebte endlich um Verzeihung bitten. Damit sie rauskommt aus dieser traurigen Kammer! Und er rein! Für die nächsten 500 Seiten, äh, Jahre.«