Erst mal sieht es aus wie ein doofer Streich. Da will jemand Touristen ärgern. Überkritzelt Wegweiser, damit sich niemand mehr auskennt. Haha. Aber – wen soll das jucken? Fahren doch alle mit gut geölten Navis herum.
Tatsächlich sind die Kritzelschilder auf Korsika mehr als ein Streich, sie sind Politik. Echos einer Zeit, in der hier die Separatisten mit Waffen und Bomben die Unabhängigkeit von Frankreich erzwingen wollten. Die Schilder sind meistens nur zum Teil übermalt. Da ist schon noch ein Ortsname erkennbar – aber bloß der korsische. Der französische ist gestrichen.
Die Geste ist rotzig, trotzig – und fast rührend. Sie fällt ja den Navi-Reisenden im Vorbeifahren nicht mal auf. Da muss erst einer kommen wie der englische Fotograf Andy Rumball. Er verwendet aus Prinzip kein Navi, weil er findet: »Wenn ich mit einer Landkarte unterwegs bin, muss ich mich auf die Gegend einlassen, sie mit der Karte vergleichen. So entsteht ein viel dichterer Bezug zur Umgebung.« Im Urlaub auf Korsika fielen ihm die Schilder auf, er machte Fotos und fragte in den Dörfern, was es damit auf sich hat.
Die Schilder verweisen auf einen Konflikt, dessen Geschichte mehr als 250 Jahre zurückreicht. Jahrhundertelang gehörte Korsika zur Republik Genua, die Insel liegt ja direkt vor der italienischen Küste. Aber die Korsen wollten nie akzeptieren, dass jemand über sie herrscht, sie träumten vom autonomen Inselstaat. Im 18. Jahrhundert entstand die erste Unabhängigkeitsbewegung, 1755 gaben sich die Korsen eine eigene Verfassung. 1769 aber war es schon wieder vorbei mit der Unabhängigkeit, Frankreich kaufte Genua die Insel ab und überrannte die winzige korsische Armee.
Die Insel wurde französisiert. Seitdem haben viele Orte auf Korsika zwei Namen, den alten korsischen, den neuen französischen. Zwar arrangierten sich Insel und Festland, von den Subventionen aus Paris profitiert Korsika bis heute. Aber im 20. Jahrhundert wurde die Insel zu einem Fall wie Nordirland oder Katalonien, der Konflikt verschärfte sich. Der Front de Libération National de la Corse, gegründet Mitte der Siebzigerjahre, verübte innerhalb von 25 Jahren mehr als 8000 Anschläge auf Behörden, Schulen, Rathäuser. In den Neunzigerjahren dann teilte sich der FLNC in Untergruppen auf, die sich gegenseitig bekämpften, es gab viele Tote. 1998 wurde der französische Präfekt Claude Erignac ermordet.
Erst dieser Mord brachte die Wende. Die Korsen gingen auf die Straße, demonstrierten gegen die Gewalt und machten klar, dass sie das Treiben der FLNC-Gruppen nicht mehr unterstützten. Vor ein paar Jahren legten die Separatisten offiziell die Waffen nieder. Heute sind die meisten Korsen zufrieden damit, korsische Franzosen zu sein.
Übrig blieb der symbolische Widerstand Einzelner. Wer das genau ist, erfuhr der Fotograf Andy Rumball nicht. Und bei der Frage, wie ernst die Kritzeleien überhaupt noch gemeint sind, winkten die Kellner und Hotelwirte, mit denen er sprach, grinsend ab. Mag sein, es sind nur Kritzeleien, aber sie sind, heute mehr denn je, Zeichen der Zeit in einer Welt, in der sich alle möglichen Bewegungen, Gruppen, Parteien abschotten wollen. Gegen Zuwanderer. Gegen Nachbarn. Gegen oben. Gegen unten. Donald Trump will eine Mauer, die Engländer wollen keine EU, die Katalanen wollen keine Spanier sein, die Franzosen mit den gelben Westen wollen nichts zu tun haben mit denen ohne. Die Welt wird ungemütlicher, weil immer mehr Menschen die Lösung gesellschaftlicher Probleme nicht im Miteinander suchen, sondern im Gegeneinander. Aus »Wie kriegen wir das hin?« ist ein »Wie kriegen wir die anderen weg?« geworden.
Die Kritzelschilder sind ein letztes, eher albernes Symbol des Wir-gegen-die. Aber immerhin: Da schießt niemand mehr. Die einzigen Waffen sind jetzt Filzstifte und Farbtöpfe. Ein paar Spritzer, ein paar wütende Striche – einen Moment später sind auch schon die nächsten Touristen dran vorbeigekurvt. Und keiner hat’s gesehen.