Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich liebe meine Frau. Serena und ich kennen uns seit zehn Jahren, sind seit fünf verheiratet und vor einem Monat kam unsere Tochter Silia Theodora auf die Welt. Unser erstes Kind. Alles bestens.
Na ja, fast alles. Gestern begann die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien, und ich hatte eigentlich vor, mir – wie bei allen Weltmeisterschaften seit 1990 – jedes Spiel in voller Länge im Fernsehen anzusehen. Ja, richtig gelesen. Alle Spiele. Nicht nur die der deutschen (oder griechischen) Nationalmannschaft, auch Südkorea gegen Algerien. Das sind vom gestrigen Eröffnungsspiel bis zum Finale am 13. Juli exakt 64 Partien.
Meine Frau aber, die zwar durchaus für den FC Bayern schwärmt, doch bei Wörtern wie »Rasen« oder »Tor« keineswegs an Fußball, wohl aber an den Garten oder die Garage denkt, findet, meine Liebe zu Fußball gehe zu weit. Viel zu weit. Sollte ich mein Vorhaben tatsächlich umsetzen, will sie mit der Kleinen für vier Wochen zu ihren Eltern ziehen. Keine leere Drohung. Sie ist Süditalienerin. Ihre Tasche steht – als Warnung – gepackt bei uns im Flur. Ein schreckliches Dilemma.
Was Fußball angeht, teile ich das Schicksal vieler Männer: Ich bin etwa auf dem Stand eines Elfjährigen. Da kann man mit mir nicht wirklich vernünftig reden. Fußball und ich kennen uns nämlich schon länger als zehn Jahre. Natürlich ist es Liebe. Zumindest seit jenen unvergesslichen 10,9 Sekunden, die Diego Armando Maradona im WM-Viertelfinale 1986 in Mexiko brauchte, um vier englische Verteidiger und den legendären Torwart Peter Shilton zu umkurven, um vor mehr als 100 000 Zuschauern in der 55. Minute das offizielle »WM-Tor des Jahrhunderts« zu schießen. Ich hab die Szene gefühlt zehntausend Mal auf dem heimischen Bolzplatz nachgespielt. Damals, als Elfjähriger, ähnelte ich Maradona sogar ein bisschen: etwas zu klein für mein Alter, etwas zu dicklich, Pausbacken, lockiger schwarzer Wuschelkopf, auch ziemlich lauffaul, aber technisch – ich sag’s mal so: Typ Günter Netzer, nur andere Frisur.
Seitdem ich nicht mehr selbst spiele, schaue ich Fußball im TV. Jeder Anpfiff, jedes Dribbling, jeder im Netz zappelnde Torschuss löst ein Kribbeln aus: ein so reines, unschuldiges und präpubertäres Kribbeln, das sich wie ein gelungener Pass in die Tiefe meines Erinnerungsvermögens schmiegt. Es ist wie eine Zeitreise, die mir das Gefühl schenkt, wieder elf Jahre alt zu sein. Klar, es bräuchte eine viel tiefer gehende psychotherapeutische Behandlung, um zu ergründen, warum ich mich nicht wie viele andere damit zufriedengebe, nur die großen Spiele anzuschauen, warum ich als KSC-Fan auch jedes noch so langweilige Zweitligaduell atemlos verfolge. Aber das führt jetzt zu weit.
Unser Kompromiss für die nächsten Wochen? Meine liebevolle Schwiegermutter kommt zu Besuch, kümmert sich verstärkt um die Kleine, und ich schaue nur die Spiele der deutschen, griechischen und italienischen Nationalmannschaften. Damit, sagt Serena, könne sie leben. Zähneknirschend, versteht sich. Ich muss ihr nur noch beichten, dass ich – zufällig – Karten für das Finale ergattert habe und am 13. Juli in Brasilien bin.
Illustration: Andy Rementer