Gerade wurde eine neue Studie veröffentlicht, dass Berufsmusiker viel mehr hören und wahrnehmen als andere Menschen. Es heißt sogar, sie könnten in der Stimme ihres Gegenübers hören, ob es demjenigen gut geht oder schlecht. Wie ist das bei Ihnen?
Ich glaube schon, dass meine Ohren sehr viel sensibler sind als die Ohren anderer. Ich gebrauche und fordere sie einfach mehr. Aber ob ich wirklich die Stimmung eines Menschen höre? Ich weiß nicht, wie rasch Nicht-Musikern auffällt, dass es einem Menschen schlecht geht. Wenn ich jemanden kenne, merke ich es sehr schnell. Grundsätzlich hören wir heute aber alle nicht mehr so genau hin, wir verpassen viele Klänge. Wer in der Stadt wohnt, zum Beispiel, nimmt vor allem den Autolärm wahr, nicht den Vogel, der zwitschert. Ich habe Glück, ich wohne im Grünen und höre jeden Tag Kühe, Hühner und Pferde. Auch Blätter machen ein wunderschönes Geräusch, wenn der Wind sie bewegt. Für mich als Musikerin ist das sehr wichtig, es hilft mir, wenn ich meine Musik interpretiere.
Was haben Kühe und Blätter mit dem Cellospielen zu tun?
Sehr viel. Ich versuche für mein Spiel immer aus der Natur zu schöpfen. Mein Instrument soll so natürlich wie möglich klingen – außer ich spiele einen Komponisten, der das bewusst nicht wollte oder will. Jedes Instrument bringt einen eigenen Klang mit, es kommt auf das Holz an, auf die Bauart, auf die Saiten, die man aufspannt. Auf diesen Naturklang sollte man achten. Darum finde ich das Wort Kunst für das, was wir tun, auch nicht treffend.
Sie sehen sich nicht als Künstlerin?
Na ja, es ist ein schönes Wort, aber es ist gefährlich. Viele Künstler werden vor lauter Kunst selbst künstlich. Es ist schwer, ständig muss man sich auf Bühnen präsentieren, muss lächeln, beeindrucken. Da passiert es schon, dass man eine Maske aufsetzt. Aber das wirkt schnell aufgeblasen und lebensfremd. Kein Wunder, dass junge Leute nicht so gern zu Konzerten kommen. Es ist ihnen zu künstlich, zu bedeutungsschwanger.
Wenn man klassische Musik anders präsentieren würde, würden sie junge Leute auch lieber hören?
Ja, davon bin ich überzeugt. Ein klassisches Konzert kann überall stattfinden, nicht nur in konventionellen Konzertsälen – es wäre gut, einfach mal dort hinzugehen, wo junge Leute sind, in eine Bar zum Beispiel oder auf ein Festival. Allerdings gibt es noch ein anderes Problem: Immer wird die Frage gestellt, warum 18-, 19-Jährige keine klassische Musik hören. Dabei ist es in diesem Alter längst zu spät! Schon als Kind muss man mit klassischer Musik in Kontakt kommen, dann wird sie immer Teil des Lebens sein. Hören die Eltern klassische Musik, hören die Kinder sie meistens auch gerne.
Das heißt, Kinder, die in einer Familie aufwachsen, in der Schlager oder Punk gehört werden, sind für die klassische Musik für immer verloren?
Nein, es gibt sicher auch Menschen, die diese Musik später für sich entdecken und lieben lernen. Aber es ist für sie viel, viel schwieriger als für Kinder, die mit den Eltern beim Sonntagsfrühstück die „Brandenburgischen Konzerte“ oder Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ gehört haben.
Vielleicht ist es auch ein Fehler, dass klassische Musik immer als ernste Musik bezeichnet wird, das klingt so spaßfrei.
Allerdings. Das Leben ist schon ernst genug. Und was ist mit Pop-Musikern, nehmen die ihre Arbeit, ihre Musik etwa nicht ernst? Wir müssen immer alles kategorisieren: Das ist klassische Musik, das ist Popmusik, das ist ernste Musik, das ist Unterhaltungsmusik – wehe, das eine vermischt sich mit dem anderen, dann sind wir verwirrt.
Was spricht eigentlich dagegen, dass klassische Musik auch Unterhaltungsmusik ist?
Nichts, das ist es ja. Das, was wir heute Barockmusik nennen, war damals Unterhaltungsmusik, Musik fürs Volk. Nicht irgendetwas Elitäres, Ernstes. Oder Schubert, er komponierte Volksmusik, die Texte seiner Lieder sind ganz einfach. Wir müssen uns frei machen von dieser Kategorisierung, Grenzen verschwimmen und verändern sich, und das ist gut.
Wie durchlässig sind Ihre Grenzen, hören Sie denn außer Klassik auch andere Musik?
Ich habe selten Zeit, bewusst Musik zu hören. Aber ich liebe Radio, es ist so spontan: Ich schalte hin und her bis mich etwas anspricht. Jazz mag ich sehr und ich höre natürlich oft klassische Musik – nicht weil ich das Gefühl habe, dass ich nichts anderes hören kann, sie macht mich einfach ruhig und entspannt. Popmusik zum Beispiel finde ich lustig, ich höre sie gern im Auto, zu Hause macht sie mich hibbelig.
Kann man als Klassik-Interpret eigentlich Techno mögen?
Ich würde diese Musik auch nicht mögen, wenn ich einen anderen Beruf hätte. Klar, ich war auch in Discos und ich liebe es zu tanzen. Musiker müssen tanzen können, sie müssen Rhythmus im Körper haben. Aber Techno? Das ist Musik, bei der man nicht denken muss, sie hämmert – bam bam – zieht dich mit, aber du musst nie überlegen, was als Nächstes kommt. Sie überrascht dich nicht. Ich habe das Gefühl, mein Gehirn verschließt sich dabei.
Beim Musikhören wollen Sie denken? Sagen Sie auch – wie viele klassische Musiker von sich – Musik kann man nie nebenbei hören, nur ganz konzentriert?
Nein. Denn ab dem Moment, in dem Musik erklingt, ändert sich die Atmosphäre, das Leben in einem Raum. Musik ist immer bereichernd. Wenn Freunde zum Tee da sind, würde ich zwar kein Stück hören, das ich selber spiele, weil ich es dann immer analysieren müsste, wie derjenige auf der CD das nun spielt, ob er etwas anders macht, besser oder schlechter. Aber ich finde Musik auch schön, wenn sie im Hintergrund läuft.
Sie sind in Argentinien aufgewachsen, Ihr Vater hat Sie alle zwei Wochen 800 Kilometer zum Cellounterricht nach Buenos Aires gefahren. Wie haben Ihre Eltern Ihr Talent erkannt?
Diese Frage habe ich mir oft gestellt, ich glaube, sie waren sehr risikofreudig. Ich unterrichte in Basel junge Musiker, sie sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt und die Mütter dieser sehr talentierten Kinder fragen mich oft: Hat mein Kind so viel Talent, dass wir es von der Schule nehmen und uns mehr auf die Musik konzentrieren sollen? Ich finde die Antwort darauf wahnsinnig schwer. Ich bewundere meine Eltern, dass sie damals diesen Schritt gewagt haben, von Südamerika nach Europa zu ziehen, ohne zu wissen, ob es sich lohnt. Dass sie entschieden haben, vier Jahre getrennt voneinander zu leben, sich nur zweimal im Jahr zu sehen – ich weiß nicht, ob ich das für meine Kinder machen würde, das ist schon ein großes Opfer und ich bin meinen Eltern dafür sehr dankbar
Hatten Sie als junges Mädchen nicht mal Lust, alles hinzuwerfen? Die ganze Disiplin, die Strenge, das ständige Üben?
Ich war ein sehr spezielles Kind. Meine Eltern haben mich zwar unterstützt, aber ich war immer die, die entschieden hat. Als mir mit zehn das Stipendium in Madrid angeboten wurde, habe ich zu meiner Mutter gesagt: Wenn ihr nicht mitkommen wollt, ist das kein Problem, ich gehe auch alleine. Klar gab es Momente, in denen ich sehr ungeduldig war, aber ich wollte niemals aufhören.
Inzwischen sind Sie eine der wenigen international erfolgreichen Cellistinnen. Ist es schwierig, sich als junge Frau in der Branche durchzusetzen?
Ich finde nicht. Heute haben Frauen eine viel stärkere Position als früher. Aber es gehört immer auch Glück dazu und vielleicht hatte ich davon mehr als andere. Und ich habe viele sehr gute Kolleginnen, aber nicht alle wollen so leben wie ich. Ich zahle einen Preis für den Ruhm – bin ständig unterwegs, oft getrennt von meinem Freund, immer in Hotelzimmern zu Hause. Viele Frauen wollen Familie, das geht in meinem Leben im Moment nicht. Aber dazu habe ich ja auch noch etwas Zeit. Zum Glück versteht mein Freund mein Leben und die Liebe zu meinem Beruf. Er ist Orchestermanager und Festivalintendant und selber auch oft unterwegs.
Muss man heute als klassische Musikerin beides, gut aussehen und hervorragend spielen?
Gutes Aussehen hilft, da bin ich sicher, und es ist heute wichtiger als früher. Es gibt viel mehr Konkurrenz, gegen die man sich durchsetzen muss. Früher hat man in Wettbewerben auf sich aufmerksam gemacht, inzwischen gibt es so viele davon, dass sie an Bedeutung verloren haben. Heute schickt man seinen Lebenslauf und eine CD an eine Plattenfirma und hofft, dass man aus vielen ausgewählt wird.
Worauf kommt es an?
Man muss musikalisch und technisch sehr, sehr gut sein, aber es kommt auch auf die Persönlichkeit an, auf das, was du den Leuten auf der Bühne vermittelst, was du zu geben hast. Nur perfekt zu funktionieren reicht nicht, nur das schöne Bild auch nicht. Auf der Bühne ist der Moment der Wahrheit, da entscheidet sich, ob das Publikum mitgerissen wird.
Sie reißen das Publikum mit Ihrem Temperament auf jeden Fall mit.
Ich wirke oft sehr fröhlich und temperamentvoll bei meinen Auftritten. Das ist keine Show, so bin ich eben. Manche mögen das, andere vielleicht nicht, weil sie mit zu viel Lebensfreude anderer ein Problem haben. Aber ich kann und will ja nicht nur geliebt werden.
Eine Frau, die Talent hat und auch noch gut aussieht, zieht eben Neid auf sich.
Und wenn schon, Neid ist etwas Natürliches, er ist wichtig für den Ehrgeiz. Auch ich bin manchmal neidisch und beobachte genau, warum bei einem Kollegen etwas besser funktioniert, besser klingt. Man darf nur nie missgünstig werden, nie anderen ein Bein stellen. Leider gibt es viele Menschen, die genau das tun, die einen blockieren wollen. Das würde ich nie machen, außer jemand blockiert mich.
Die Kritiker jedenfalls lieben Sie, Sie werden von ihnen als Ausnahmemusikerin gefeiert. Können Lob und hohe Erwartungen auch blockieren?
Am Anfang war die Angst vor dem Fall schon schwer. Plötzlich war ich eine öffentliche Figur, quasi über Nacht; dabei war und bin ich doch die gleiche Person wie vorher und brauche Zeit, mich dorthin zu entwickeln, wo die Leute mich erwarten. Inzwischen habe ich mich an den Druck gewöhnt. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, die mich sehr nervös machen: Dirigenten, mit denen ich unbedingt arbeiten möchte, die ich beeindrucken will; Konzerte, die ich besonders wichtig finde... aber es wäre ja auch schlimm, wenn ich mich auf der Bühne genauso fühlen würde wie bei mir zu Hause im Wohnzimmer.
Sol Gabetta wurde 1981 im argentinischen Cordoba geboren und begann mit viereinhalb Jahren Cello zu spielen. Als sie zehn Jahre alt war, erhielt sie ein Stipendium an der Musikhochschule in Madrid und zog mit ihrer Familie nach Spanien. Heute ist die 27-Jährige eine gefragte Solistin und lebt in Olsberg nahe
Basel. Pro Jahr gibt sie etwa 110 Konzerte auf der ganzen Welt. Musikkritiker feiern sie als Wunderkind, sie selbst mag den Ausdruck nicht: »Ich bin talentiert, hatte sehr gute Lehrer und vielleicht großes Glück.«
Ihr Repertoire reicht von Barockmusik bis zur Gegenwart. »Ich möchte mich in keine Schublade stecken lassen«, sagt sie, »ich will alles ausprobieren, was mich musikalisch interessiert.« 2007 wurde Sol Gabetta mit dem »Echo Klassik« als Instrumentalistin des Jahres ausgezeichnet. Vor drei Jahren gründete sie ihr eigenes Kammermusikfestival SOLsberg, das jeden Sommer im Kloster Olsberg in der Schweiz stattfindet. Zudem ist sie Professorin und unterrichtet an der Musikhochschule in Basel.
Kritiker und Publikum lieben Sol Gabetta für ihr temperamentvolles Spiel. Für das »Progetto Vivaldi« bespannte sie ihr Guadagnini-Cello aus dem Jahr 1759 mit Darmsaiten, wie im Barock. Wegen ihres kraftvollen Spiels musste sie es alle paar Wochen neu bespannen.
Fotos: Marcus Jans; Styling: Tabassom Charaf; Haare & Make-up: Christian Fritzenwanker
Fotos: Marcus Jans