Vielleicht haben ein paar Studenten aus New York einfach nur zu oft Pacman gespielt. Denn irgendwann ist ihnen aufgefallen, dass der Washington Square – ein Park in der Nähe ihrer Uni – aus der Vogelperspektive aussieht wie das Spielfeld des Computerspiels, in dem ein gelber Ball vor Geistern flüchtet und dabei »Waka-Waka-Waka« macht. Im Sommer 2004 legten die Studenten ihre Joysticks beiseite und erfanden Pacmanhattan: Vier verkleideten sich als Geister. Einer zwängte sich in eine gelbe Pappmaché-Pille, er war Pacman. Dann verfolgten sie sich kreuz und quer durch Greenwich Village. Ihre Freunde konnten am Computer live mitverfolgen, wo die Spieler gerade waren – tragbare Navigationsgeräte übermittelten ihre Koordinaten. So konnte Pacman per Funk gewarnt werden, wenn in der Thompson Street ein Geist lauerte.
Passanten ließ diese wilde Jagd verwundert zurück. Ein Videospiel, das aus dem Bildschirm herausgeholt wurde? So etwas gab es noch nie. Bisher war es andersherum: Computerspiele handeln in Städten wie Sim City oder Grand Theft Auto IV, die so populär sind, weil man sich darin stundenlang in einer digital nachgebauten Großstadt bewegen kann. Pacmanhattan geht einen Schritt weiter: Elemente, Regeln und Figuren werden aus Spielen gelöst und auf das große Spielfeld vor der Haustür übertragen. Zeitungen und Blogs waren begeistert von der Idee.
»Über Pacmanhattan wurde lange Zeit mehr geschrieben, als es gespielt wurde«, sagt Greg Trefry. Der 36-jährige Dozent der New York University wollte das ändern, also rief er vor fünf Jahren mit ein paar Mitstreitern das Festival »Come Out & Play« ins Leben. Hunderte erwachsene New Yorker folgten der Aufforderung, gingen raus und spielten. Nicht nur Pacmanhattan, sondern auch etwa zwanzig andere Ideen wurden ausprobiert. Am Ende stand fest: Die Straßen einer Stadt sind das ideale Spielfeld. Man muss sich nur die passenden Spiele ausdenken, dafür reichen ein bisschen Fantasie und die Bereitschaft, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Schnell fand »Come Out & Play« Nachahmer, in Toronto oder London, und diesen Sommer mit dem »You Are GO!« schließlich auch in Berlin. An die dreihundert Menschen hetzten da durch die Straßen Kreuzbergs, suchten nach unsichtbaren Buchstaben, fotografierten Häuser mit ihren Handys und sprangen umher, als wären sie wieder Kinder und würden von ihren Freunden zum Spielen auf die Straße gerufen.
Ein ziemlich einfaches Spiel heißt Seek ’n Spell und ist eine geländegängige Version von Scrabble. Funktioniert so: Ein kostenloses Programm für Smartphones, also Handys mit Internetverbindung und großem Display, zeigt das Spielfeld aus der Vogelperspektive – den Park, die Fußgängerzone, die Schrebergartensiedlung. Man kann auf dem Handybildschirm sehen, an welchen Stellen Buchstaben versteckt sind. Ziel des Spiels: Wörter bilden aus Vokalen und Konsonanten, die man einsammelt, indem man mit dem Handy an die Orte geht, wo die Buchstaben liegen. Findet man ein »W« in einer abgelegenen Seitenstraße und ein »O« 500 Meter weiter östlich auf einem Hügel, kann es schon ziemlich schweißtreibend sein, das kleine Wort »wo« zu schreiben. Alles, was man für Seek ’n Spell braucht, sind ein Ort mit gutem Handyempfang und Freunde mit Smartphones, mit denen man um die Wette buchstabiert.
Am besten sind diese Spiele aber, wenn sie sich auf die Stadt beziehen, in der sie gespielt werden. So wie Gentrification: The Game! beim Festival in Berlin: Es geht um den Kampf zwischen Investoren und Altmietern, wie er derzeit in vielen Vierteln ausgetragen wird. Die einen lassen Luxuslofts entstehen, die anderen wehren sich mit selbstverwalteten Kulturzentren. So jedenfalls fasst es Gentrification: The Game! in den Spielregeln zusammen und teilt die Spieler zu gleichen Teilen in beide Lager auf. Dann beginnt ein Spektakel zwischen Straßentheater und digitaler Schnitzeljagd. Mit der Handykamera fotografiert jedes Team Häuser und nimmt sie damit in Besitz. Nun geht es in fünf Runden darum, diese Immobilien möglichst lukrativ auszubauen: Jedes Team bekommt ein Startkapital und muss entscheiden, was mit den Häusern passieren soll. Die Investoren bauen die Häuser in teure Lokale um, die Altmieter errichten Künstlerateliers – diese Veränderungen werden auf einer Internetseite eingetragen, die extra für das Spiel programmiert wurde.
Größere Renovierungen – »Mach aus einem maroden Altbau ein florierendes Einkaufszentrum« – kosten mehr, da muss man schon mal zwei Runden sparen. Um noch mehr Punkte zu verdienen, können die Altmieter gegen die Investoren protestieren und mit Trillerpfeifen und Transparenten durch die Straße ziehen. Am Ende entscheidet eine Jury, welches Team die meisten Punkte bekommt und gewonnen hat.
Das kann man alles albern finden und als Spaß für Nerds betrachten, aber es ist doch mehr. Kulturwissenschaftler sprechen von »Gamification«: Spielen, dieser Urtrieb des Menschen, wird in unserem Alltag immer wichtiger. »Spiele können das Verhalten von Menschen in Bahnen lenken«, sagt Greg Trefry, der Erfinder des New Yorker Festivals. Darum sammeln Menschen im Supermarkt Treuepunkte – oder suchen unsichtbare Buchstaben in Berliner Parks. Selbst Fitnesstraining funktioniert mittlerweile wie ein Computerspiel: Beim Videospiel UFC Trainer, das man unter anderem mit Nintendos Wii- Konsole spielen kann, kommt man vor dem Monitor ins Schwitzen, denn ein Bewegungssensor vergibt nur Punkte für echte Liegestütze, nicht für das Steuern irgendwelcher digitalen Athleten.
Natürlich denken längst Menschen auch darüber nach, wie man mit Street Games Geld verdienen könnte. Eine amerikanische Firma hatte die Idee, überall, im Lieblingscafé oder im Kaufhaus, kleine Spiele zu verstecken. Manche sollen einfach nur Spaß machen, andere sind eine Form von Werbung: Statt Reklametafeln aufzustellen, wollen die Firmen Leute durch Belohnungen in ihre Läden locken. Praktisch gesagt: Man könnte sich einen Softdrink verdienen, indem man beim Outdoor-Scrabble im Biergarten das Wort »Cola« buchstabiert und dem Kellner zeigt. Wenn Spiele dafür sorgen, dass wir freiwillig bei Marketingaktionen mitmachen, kann zweierlei dabei herauskommen: Street Games werden eines Tages so selbstverständlich wie Sportplätze, weil sie Alltägliches mit Spielspaß versüßen. Oder sie werden nur noch genutzt, um uns etwas zu verkaufen. Dann werden sie das tun, was Werbung meistens tut: nerven. Und wir spielen wieder Fußball.
Auf der SZ-Magazin-App für's iPad zeigen wir zusätzlich ein Video, wie Pacman durch Berlin verfolgt wird.
Fotos: Florian Kolmer