Ich kam an und wollte sofort wieder weg. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich sogar nie hin. Die Vorstellung, Indien zu bereisen, war mir mein ganzes Leben lang zuwider gewesen. Was kann schon richtig daran sein, als stinkreicher Westler durch das Elend zu waten, über bettelnde Kinder zu steigen, die im Straßendreck wohnen? Was will man da? Ich habe die Indien-Begeisterung so vieler nie verstanden, ich fand die Rucksacktouristen, die sich damit brüsteten, ein Batikhemd von zwei Euro auf 1,50 Euro heruntergehandelt zu haben, ebenso erbärmlich wie die Yoga- und Ayurveda-Touristinnen, die sich von analphabetischen Masseusen ihre Stressverspannungen mit Öl beträufeln lassen.
Und doch war ich neugierig auf ein Land, in dem immerhin jeder fünfte Erdbewohner lebt. Und auf Mumbai, den Moloch, den Höllenpfuhl – die schlimmste Stadt von allen. Selbst die Backpacker-Bibel Rough Guide verwendet fast mehr Seiten darauf, wie man von ihr wegkommt (»Most visitors aim to escape Mumbai as soon as possible«), als darauf, was man hier tun kann. Die Stadt liegt unter einer ewigen Dunstglocke aus Staub und Abgasen, sie riecht würzig und süß, faulig und stickig wie eine lange nicht gelüftete Küche. Die Tatsache, dass hier an einem Märztag mit 41,6 Grad der heißeste Tag seit 1956 gemessen wird, ist der Lokalpresse gerade mal einen Einspalter wert. Es gibt Wichtigeres: Korruptions- und Wahlbetrugsskandale, Kindesmisshandlungen, Bollywood-Klatsch, Kricket-WM.
Am ersten Tag spaziere ich ziellos, nicht fern des schicken Marine Drive, durch die Gegend und lande sofort in einem Elendsviertel. Arm und Reich wohnen hier Schulter an Schulter, ausweichen können sie einander nicht. Mumbai ist Heimat des größten Slums Asiens, Dharavi. Auf zweieinhalb Quadratkilometern hausen geschätzt eine Million Menschen (wer zählt sie schon?), im Schnitt teilen sich 15 000 Bewohner eine Toilette. Doch klaustrophobische Enge herrscht überall in der Stadt: Auf den Straßen quetschen sich Busse, Laster, Kühe, Taxis, Motorradfahrer, Menschen in jeden freien Quadratzentimeter, ohne sonderlich auf Ampeln oder Fahrspuren zu achten, in den drei S-Bahnlinien stehen in der Rushhour 14 Leute pro Quadratmeter bis zu drei Stunden lang, um nach Hause in die Vorstädte zu kommen. Und selbst wo sie nicht nötig wäre, wird Enge produziert: In den rumpeligen Aufzug meines Hotels passen gerade mal drei Leute – und trotzdem wird noch ein Liftboy hineingestellt, der den ganzen Tag stumpf Knöpfe drückt.
Meine SZ-Magazin-Aktion, für die Leser Aufträge zu erledigen, kam in dieser Stadt zum Erliegen. Gerade mal drei Anfragen gab es: Machen Sie Bikram-Yoga (das Center war ohne Erklärung geschlossen), finden Sie etwas über das Schicksal der Besitzer des »Leopold Cafe« heraus (alle Anfragen, ob per Mail oder bei zwei persönlichen Besuchen, verliefen im Sande) und »busseln Sie meinen Sohn von mir, der arbeitet gerade in Mumbai«. Dieser letzte Auftrag zumindest führte kurz in die Parallelwelt der hier lebenden Ausländer, die sich in ihren Zigarrenklubs und Gästelisten-Partys verschanzen, um sich mit müden Augen ihre Abenteuer im Inferno zu erzählen – mindestens so deprimierend wie der Rest der Stadt.
Es gibt eben kein Entkommen aus dem Chaos: Der Journalist Suketu Mehta, der aus New York in seine Geburtsstadt Mumbai zog und darüber das bittere Stadtporträt Bombay: Maximum City schrieb, schildert, wie selbst eine Mittelklassefamilie mit Fahrer und Dienstmädchen an der Stadt verzweifelt: Wuchermieten für Schrottbuden, kafkaeske Behördenwillkür, rationierte Gasversorgung wie im Ostblock vor vierzig Jahren. Indien, schreibt er, glaubt, es könne sich per Stabhochsprung in die Zukunft katapultieren, ohne richtig das Laufen gelernt zu haben: Software-Entwicklung ohne hinreichende Schulbildung, Herzchirurgie in einem Land, das nicht mal Kinderkrankheiten in den Griff kriegt, Waschmaschinen dort, wo es keine geregelte Wasserversorgung und ständige Stromausfälle gibt.
War es also nur furchtbar? Natürlich nicht. Mumbai wurde, wie jede Zumutung, von Tag zu Tag erträglicher, am Ende sogar lustig. Man gewöhnt sich an alles: an Menschen, die am helllichten Tag auf dem Bürgersteig schlafen, an die täglichen Versuche von Taxifahrern, Händlern, Rumstehern, einen über den Tisch zu ziehen. Irgendwann knipst man die westlichen Werte aus, die alles in so grässliches Licht tauchen, und nimmt alles so, wie es ist. Sich nicht gegen die Umstände aufbäumen, nicht mal versuchen, das Beobachtete zu verstehen oder einzuordnen, einfach mitfließen – diese Ratschläge wurden mir vorher mit auf den Weg gegeben, und ich habe sie einfach weggelächelt.
In Indien fing meine Welttour erst wirklich an. Bis hierher waren es große Ferien, ab jetzt wird es eine Reise.
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Illustration: Luise Aedtner