Meikes Reisebüro (4): Shanghai

Zwölf Monate, zwölf Städte – unsere Kollegin fährt ein Jahr lang um die Welt und erledigt Aufträge unserer Leser. Wegen des Erdbebens und der Atomkatastrophe in Japan änderte sie ihre Pläne. Und landete in Shanghai, wo sie viele Landsleute traf.

Freitagnachmittag im Massagesalon »Dragonfly«. Ein grauhaariger Mann, Karojackett, Aktentasche: »Ei wont a futmassasch.« Es sei leider alles ausgebucht, sagt ihm die Empfangsdame, ob er in zehn Minuten wiederkommen könne? Nach elf Minuten steht er wieder vor ihr. »Es tut mir leid …«, sagt die Empfangsdame. »ES HAT IHNEN NICHT LEID ZU TUN, SIE HABEN MIR EBEN GESAGT: IN ZEHN MINUTEN, UND ICH WILL JETZT …« – und so weiter und so fort. Man disponiert hektisch um, er wird reingeschoben, sein Name notiert (hoffentlich für eine spätere rituelle Verwünschung). »T–H–I–E–L–E.« Natürlich, ein Landsmann. »Kommen Sie mit solcher Unfreundlichkeit hier eigentlich gut durch?«, frage ich ihn.

Nirgendwo habe ich bisher so viele Deutsche getroffen wie in Shanghai. Zähneknirschend Herversetzte, freiwillig Hergezogene, Goldsucher, Künstler. Und alle macht die Stadt ein bisschen verrückt. Die einen müssen alle sechs Wochen mal raus hier, die anderen ziehen sich in ihre bewachten Expat-Enklaven draußen in der Nähe der Deutschen Schule zurück, kaufen Haribo-Gummibärchen und Frosch-WC-Reiniger im Cityshop und Mohnsemmeln bei der Bäckerei »Abendbrot«. Wieder andere drehen gelegentlich durch, siehe Herr Thiele.

Selbst wenn man nur einen Monat hier ist wie ich, kann man der Stadt förmlich beim Wachsen zugucken. In jeder Straße wird gebaut wie im Rausch: Wo gestern noch ein Loch im Haus war, wird morgen ein Restaurant eröffnet. Julia, eine seit zwölf Jahren hier lebende Deutsche, mit der ich am Bund, der berühmten Uferpromenade, entlangflaniere, zückt erst mal die Kamera. »Moment. Da drüben in Pudong sind schon wieder zwei neue Hochhäuser.« Man muss hier nie umziehen, sagt sie, denn die Stadt tauscht sich von allein aus.

Meistgelesen diese Woche:

Die meisten der Leseraufträge für Shanghai waren dann auch fast wie ein warmes Gegengift zur rasenden Stadt. »Umarme meinen Papa von mir und sag ihm, dass ich ihn lieb habe« (aaaah!), »Besuche unsere Freunde aus Ingolstadt« (danke, sehr heiterer Nachmittag in einem schönen Longtang-Haus), »Meine Frau hat am 1. Mai Geburtstag, bringen Sie ihr bitte ein paar Brezeln ins Büro« (der 1. Mai ist ein Sonntag, aber wir haben reingefeiert). Einige weitere Jobs:

»Was ist mit dem deutschen Pavillon von der Expo 2010 passiert?« Der wurde abgerissen – nein, »nachhaltig rückgebaut«. Die Materialien wurden entweder von den Bauträgern zurückgekauft oder für andere Zwecke verwendet, aus der silbernen Mesh-Fassade (eine textile Membran) zum Beispiel wurden Sonnenschutzteile für die Deutsche Schule.

»Können Sie mir bitte einen guten Händler für graue Süßwasserperlen empfehlen?« Ähm … lieber nicht, ich trau’s mir nicht zu. Ganz ehrlich: Hier ist praktisch alles gefälscht. Jade ist aus Glas, Louis Vuitton ist aus Plastik, Antiquitäten sind zwei Wochen alt. Und wer weiß, woraus sie Süßwasserperlen basteln.

»Schaffen Sie es, mit dem Taxi ans Ziel zu kommen, wenn Sie das Ziel ausschließlich mündlich ansagen?« Diverse Male versucht. Gescheitert. Taxifahrer verstehen einen aus Prinzip nicht, man muss ihnen die Adresse (in chinesischen Schriftzeichen!) hinhalten. Oder den gewünschten Ort auf dem Stadtplan zeigen. Oder doch lieber die U-Bahn nehmen.

Und das führt mich direkt zu meinem größten Versagen und größten Vergnügen in Shanghai. Der Auftrag des Landschaftsarchitekten Dietmar Straub: »Wir haben vergangenes Jahr den neuen Botanischen Garten Chenshan entworfen und gebaut, etwa dreißig Kilometer südwestlich des Zentrums. Könnten Sie bitte nachschauen, wie es den Pflanzen geht?« Schöner Job! Ich wollte sowieso mal raus. Von der U-Bahn-Station Sheshan sollte man angeblich mit kostenlosen Leihrädern in den Park fahren können. Nach einstündiger Fahrt ausgestiegen: keine Räder. Ein radebrechender Student bot sich an, mich im Wagen in den Park mitzunehmen. Am Ziel: ganz anderer Park als der gesuchte. (Der sah aber auch toll aus, Herr Straub.) Irgendwo gestrandet, ohne Ahnung, wo ich eigentlich bin und wie ich hier wieder wegkomme, jenseits aller Kartengrenzen und ohne Sprachkenntnisse. Eine einsame Busstation in der Nähe: nur Schriftzeichen. Ich habe mich schließlich vor einen Moto-Rikscha-Fahrer geworfen und ihm eine Bahn mit der Nummer neun aufgemalt.

Herr Straub: Ich habe leider keine Ahnung, wie es Ihren Pflanzen geht. Vermutlich super. Aber ich danke Ihnen von Herzen: Zum ersten Mal auf dieser Reise hatte ich das prickelnde Gefühl, wirklich weg zu sein.

Foto: Camillo Büchelmeier