Ich hatte den Text über meine siebte Reisestation London und meine Aufträge dort schon vor zwei Wochen an die Redaktion geschickt. Es war ein leicht nostalgisches Stück über meine fast lebenslange Liebe zu London geworden, die vor vierzig Jahren mit den Federzeichnungen von Big Ben in einem roten Klett-Schulbuch anfing. London, das war für mich mit zehn die große Welt, die erste Fremdsprache, die erste Ahnung, dass es woanders aufregender sein könnte als zu Hause. Ganz klar, dass meine erste Soloreise mit 18 nach London ging. Ich kam mit dem Fahrzeug meiner Kindheit, einem dreigängigen Hollandrad, in die Stadt geritten, zitternd vor Mut, fiepend vor Aufregung, das Leben vor mir. Bis heute hat sich in all den Jahrzehnten nichts an diesem Gefühl geändert, wann immer ich hierher zurückgekommen bin.
Die Aufträge der SZ-Magazin-Leser gingen fast alle in eine ähnlich vergangenheitsselige Richtung, à la recherche der heilen Welt. Ich wurde in Kirchen, Museen und Theater geschickt, sang in einem Pub, ließ mir von Darryl, dem Bassisten der Pogues, in seiner Küche ein Honigbrot schmieren und besuchte im Auftrag einer Englischlehrerin einen Buchverkäufer, der seit vierzig Jahren im selben Laden, in derselben Abteilung arbeitet und dem sie in all der Zeit nie gedankt hatte. Ich schwelgte in meinen eigenen Erinnerungen und denen der Leser an eine ebenso aufregende wie zivilisierte, durch nichts zu erschütternde, leicht meschuggene und zutiefst menschliche Stadt. Dann flog ich glückssatt weiter in meine nächste Stadt, Kopenhagen. Und sah im Fernsehen London brennen.
Seitdem schaue ich BBC und sehe mit fassungsloser, kalter Wut zu, wie die kleinen Arschlöcher prügelnd, plündernd und brandschatzend durch die Straßen ziehen, wie Bewohner panisch aus lodernden Häusern springen, wie sogar die Feuerwehr angegriffen wird, die zum Löschen anrückt. Das ist kein Protest der Zukurzgekommenen gegen die Ungerechtigkeiten des Klassensystems, das ist reines Vergnügen an der Anarchie: Im Machtrausch zünden sie ihren eigenen Kiez an, treten die Fensterscheiben von Geschäften ein, in denen sie bisher eingekauft haben. Keine Gnade für niemanden: Eine der schlimmsten Szenen zeigt einen Jugendlichen, blutend am Boden, umringt von anderen, die ihm aufhelfen, sich scheinbar um ihn kümmern, tatsächlich aber seine Hilflosigkeit ausnutzen, um seinen Rucksack auszuräumen. Ich sehe das in Endlosschleife und denke: Das ist nicht mein London. Und doch muss es die ganze Zeit da gewesen sein. Wieso habe ich es nicht gesehen?
Reisen heißt Romantisieren. Wir suchen das Bekannte im Fremden, die Bestätigung des eigenen Weltbildes, im besten Fall die positive Überraschung. Wir sehen, was unseren Erfahrungen und Wahrnehmungsfähigkeiten entspricht oder was wir sehen wollen, weil wir uns vom Anderen eine Bereicherung versprechen, ein Bedienen unseres eigenen Defizits. Das ist völlig legitim, und es wäre verrückt zu glauben, man könne bei einem Besuch jede Ecke einer 14-Millionen-Metropole erfassen. Jede Stadt, ob London oder München, hat auf unserer inneren Landkarte weiße Flecken, durch die man höchstens mal auf dem Weg zur Autobahn oder zu Ikea fährt. Man kennt keinen, der da wohnt, solche Stadtteile sind gefühlt so weit weg wie ein Dorf im Hindukusch. Als ich damals mit 18 auf dem Rad nach London hineinfuhr, habe ich mit wachsender Ungeduld all die Viertel durchquert, in denen jetzt die Brände lodern: Enfield, Tottenham, Dalton. Ich bin nicht abgestiegen, ich wollte ja nach London – und habe nicht verstanden, dass ich schon dort war. Nur durch exzessive Gewalt, so scheint es, können solche Orte überhaupt noch ins Bewusstsein gelangen. »Natürlich ist das hier zu was gut«, sagt ein junger Randalierer in Tottenham, dem ein Mikro unter die Nase gehalten wird, »würden Sie sonst mit mir sprechen?« Selbst Premier David Cameron hat zuerst nicht hinsehen wollen, er arbeitete auch dann noch in der Toskana an seiner Rückhand, als seine Stadt schon drei Nächte brannte.
Meine bisherige Reise durch inzwischen acht Städte hat mich eins gelehrt: wie klein die Welt ist und wie groß zugleich. Überall geht es darum, dass sich Menschen unterschiedlichster Überzeugungen und Bedürfnisse auf engstem Raum miteinander arrangieren – sie tun es nur auf denkbar unterschiedliche Weise. Die Londoner mit »Keep calm and carry on«, mit Twitter-Verabredungen zum gemeinsamen Aufräumen, mit Baseballschläger-bewaffneten Bürgerwehren – L’État, c’est nous –, aber eben auch mit dem Aufruf des Vaters eines der vermutlich von Plünderern überfahrenen Jungen zu Gewaltlosigkeit. »Es darf keine weiteren Toten geben«, sagt er, der seinen Sohn hat sterben sehen. Doch das ist natürlich wieder nur etwas, was ich in den Ereignissen lesen möchte. Die Londoner Bilder sind – ebenso wie die aus Oslo, ebenso wie alles zunächst Unfassbare – wie ein Rorschach-Test: Jeder sieht darin, was er sehen will.
Ist meine Geschichte von vorletzter Woche, die voller London-Seligkeit, die wir jetzt wegen der aktuellen Ereignisse nicht drucken, also falsch? Natürlich nicht. Sie stimmt genauso wie diese oder wie eine ganz andere, die ich nächste Woche oder nächstes Jahr schreiben würde. Darum geht es letztlich beim Reisen wie beim Leben: Immer wieder hingehen. Immer wieder hingucken. Und jedes Mal neu nachdenken.
Foto: Luise Aedtner