Was wissen wir von Äthiopien: Ja, klar, schnelle Läufer, guter Kaffee. Unsere Autorin aber hat in dem Monat, in dem sie in Addis Abeba lebte, viel mehr entdeckt, was diese Stadt und dieses Land liebenswert macht.
Addis Abeba? Wieso denn ausgerechnet dahin? Bei keiner anderen Stadt meiner Weltreiseroute wurde mir so oft diese Frage gestellt, und bei keiner war es mir so schwergefallen, darauf eine Antwort zu finden – zumindest vor meinem Monat dort. Eine vage Ahnung, eine vage Sehnsucht, ein paar Empfehlungen von weit gereisten Freunden und Kollegen haben den Ausschlag gegeben, aber in Wirklichkeit hatte die Entscheidung viel mit urdeutschem Vollständigkeitsdenken zu tun: Irgendwas Afrikanisches sollte schon dabei sein, Marrakesch und Kapstadt kenne ich, also was nehmen wir? Jetzt, hinterher, schäme ich mich richtig, so leidenschaftslos über diesen Kontinent nachgedacht zu haben, aber jetzt könnte ich die Frage auch leicht beantworten: Ja, wohin denn sonst?
Äthiopien hat mich in jeder Hinsicht überrascht, es war das große Aha-Erlebnis dieses Jahres. Im Hinterkopf noch die Bilder von Dürren und Hungerkatastrophen, vor den staunenden Augen aber ein Land voller alttestamentarischer Landschaften, jahrtausendealter Geschichte und reicher Kultur – fast ein Skandal, dass jeder die ägyptischen Pyramiden, kaum einer aber die viel raffinierteren Felsenkirchen von Lalibela kennt –, ein Land voller stolzer Menschen und tiefer Religiosität. Äthiopien war als einziges Land Afrikas nie Kolonie, hat schon sehr früh, im 4. Jahrhundert, das Christentum adoptiert, ohne es von Missionaren eingeprügelt zu bekommen, und darf sich zu Recht Wiege der Menschheit nennen: In seiner Erde wurden Ardi und Lucy gefunden, die ältesten Hominiden der Welt.
Die Aufträge der SZ-Leser sprachen ebenfalls viel von ihrer Liebe zum Land und seinen Bewohnern. Eine Rose für die Sängerin Manalemosh Dibo sollte ich niederlegen, die 2009 jung an Krebs starb, nachdem sie viel zu lange einem Quacksalber aufgesessen war – erledigt, lieber Herr Eckert. Eine Leserin, Barbara Lengricht, traf ich auf einer Reise in den Norden in der Provinzhauptstadt Mekele, wo sie seit eineinhalb Jahren mit ihrem Mann lebt. Wir wollten nur auf ein Bier gehen und gerieten in eine Feier hinein, bei der wir herzlich genötigt wurden, uns am sich biegenden Fleischbuffet zu bedienen, besonders am Kitfo, dem grob gehackten, scharf gewürzten rohen Fleisch – köstlich, auch wenn Barbara noch so warnend blickte. Sie erzählte viel über das immer noch Fremde, das ganz schnell Vertraute, das nachhaltig Irritierende – anfangs wurde sie beim Joggen von Kindern mit Steinen beworfen; »die wussten es einfach nicht besser« –, und wir verabredeten uns eine Woche später auf dem Weihnachtsmarkt der deutschen Gemeinde in Addis Abeba, wo Adventskränze und Christstollen über den Tisch gingen und ein äthiopischer Kinderchor auf Deutsch »Bald ist Nikola-haus-abend da« sang. Einer der bizarreren Momente des Jahres.
Ein weiterer Auftrag kam vom Ulmer Slow-Food-Vorsitzenden Lothar Klatt: »Suchen Sie doch bitte Dr. Jürgen Greiling auf, um den besten Honig Äthiopiens zu probieren (Tutu Honey, Alem Honey und Beza Mar). Sie sollten wissen, dass Äthiopien einer der größten Erzeuger von Honig weltweit ist und davon in Europa noch nichts angekommen ist. Aber Dr. Greiling arbeitet daran.« Und wie er das tut: Zu unserem Treffen brachte er selbst gemachten Honig mit (er ist Hobbyimker und hält ein Bienenvolk), der so köstlich war, dass ich ihn noch am selben Abend vollständig weggelöffelt hatte, direkt aus dem Glas. Warum gibt es diesen Honig bislang nicht in Deutschland? EU-Normen, sagt Greiling, der sich seit 1999, beurlaubt von der Uni Stuttgart-Hohenheim, im Dienst eines niederländischen Entwicklungsprojekts um Milch- und Honigproduktion kümmert, um Ertragssteigerung, Qualitätskontrollen, Frauenförderung – Bienenhaltung lässt sich besonders leicht in Hinterhöfen betreiben, quasi neben der Hausarbeit. »Das Potenzial ist enorm«, sagt er, während ich überlege, wie ich ihm ein zweites Glas Honig abluchse.
Ein paar Tage später sitze ich in einem kleinen Haus nicht weit vom Verkehrsknotenpunkt Arat Kilo, im Auftrag der SZ-Leserin Ruth Paulig, Gründungsmitglied der bayerischen Grünen. Ihr Bruder Heinrich habe in den Siebzigern in Addis als Mathematikprofessor an der Uni gearbeitet und sehne sich sehr nach Äthiopien zurück. Aufgrund eines Schlaganfalls könne er aber nicht mehr reisen. Ob ich ihm bitte ein Tütchen Berbere besorgen könne, das scharfe äthiopische Gewürz, das er so liebt? Und bitte auch mal bei seiner alten Haushälterin Birke vorbeischauen, die mit ihren sechs Kindern bei ihm gelebt habe? Ihr ein bisschen Obst bringen und Geld für Medikamente?
Der Besuch entwickelt sich schnell zu einer Reise in die Vergangenheit. Birke holt alte Fotoalben hervor, »ihren Schatz«, sagt ihr Sohn Getenet. Darin unzählige Bilder all der Menschen, für die sie im Lauf ihres Lebens gearbeitet hat, Deutsche, Franzosen, Familien, deren Kinder sie aufwachsen und schließlich gehen sah. Auf mehreren Fotos ist sie mit einem weißen Baby auf dem Arm zu sehen: Michael, der in Addis geborene Sohn Heinrichs – heute ein erfolgreicher Wissenschaftler, er leitet einen Forschungsbereich an der TU München.
Mich beschäftigen solche Fotos, solche Geschichten immer sehr: die Berührungspunkte, die man im Leben hat (die auch ich in diesem Jahr hatte), die Wege, die sich danach wieder in ganz andere Richtungen entwickeln. Ich soll unbedingt die Fotos schicken, die ich an diesem Vormittag gemacht habe, sagt Getenet. Die wird er ausdrucken. Und die werden wahrscheinlich bald neben all den anderen im Album seiner Mutter kleben.
Foto: Camillo Büchelmeier