Wie geht es dem Mädchen, das bei einem S-Bahn-Unfall beide Beine verlor?

Offene Fragen aus dem Jahr 2007.

An den 7. Mai 2007, den Tag ihres Unfalls am S-Bahnhof Possenhofen, ihren täglichen Weg vom Starnberger See in ein Münchner Gymnasium, kann sich Daisy Princess Krieg nicht mehr erinnern. »Ich weiß nur noch, wie ich morgens vom Parkplatz zum Bahnsteig gegangen bin, von da an ist alles weg.« Zehn Tage später erwacht sie nach und nach aus einem künstlichen Koma, man erzählt ihr, was passiert ist, sie liest die Zeitungsartikel über sich, als wäre es eine andere. In denen steht: Eine 18-jährige Schülerin fiel am Bahnsteig vor die einfahrende S-Bahn, wegen einer Kreislaufschwäche, beide Beine wurden an den Unterschenkeln abgetrennt, die Schülerin zog sich danach sogar noch selbst auf den Bahnsteig und wurde mit einem Hubschrauber in die Unfallklinik Murnau gebracht. »Am Anfang war es schwer, die Geschichte zu glauben, sich damit zu identifizieren, obwohl ich im Krankenbett ja sehen konnte, was passiert war.«

Nach 16 Operationen kann Daisy heute, mit zwei Prothesen, wieder gehen. Sie wollte keine Krücken und auch die beiden Stöcke, die ihr anfangs bei der Balance halfen, hat sie nun abgelegt, »das sah zu sehr nach Nordic Walking aus«. »Es geht mir gut«, diese Antwort hat sie ihren Mitschülern, ihren Lehrern oft gegeben, auf die immer gleiche Frage. »Aber das Wichtigste ist, dass man weitermacht.« Sie hat die Klausuren nachgeholt und zusätzliche Fahrstunden genommen, um einen Automatikwagen fahren zu können. Nächstes Jahr will sie Abitur machen, danach hat sie vor, Jura zu studieren. Ihre Ziele treiben sie weiter in die Zukunft, in »ein anderes, ein neues Leben«, wie sie sagt, und doch bleibt die Gegenwart von jenem
7. Mai bestimmt. Als Daisy sich in der Intensivstation das erste Mal am Rand des Bettes aufsetzte, damit man sie in einen Rollstuhl heben konnte, wurde ihr schwindlig, es befiel sie eine unendliche Panik. »Ich merkte, dass ich falle, vielleicht nicht so tief wie vom Mount Everest, aber jedenfalls so, dass ich mich nicht auffangen kann.« Als sie wenig später das erste Mal aufstehen sollte, stand sie auf zwei Prothesen, stützte sich mit den Händen an einem Barren seitlich ab, Ärzte und Therapeuten, denen sie viel verdankt, standen um sie herum, sagten ihr, wie sie gehen solle. »Das klang für mich absurd, völlig abstrakt.« Sie versuchte es, hob ein Bein, setzte es ab, dann das andere. Aber wie? »Einer hat dann gesagt, ich soll einfach nach vorn schauen, nicht auf meine Beine. Ich wusste nicht, wie ich laufen sollte, aber dann bin ich gelaufen.«

Kurz nach ihrem Unfall fragte Daisy ihre Mutter einmal: Warum ich? Und warum beide Beine? Aber Daisy merkte, dass es auf die Frage nach dem Warum keine Antwort gab. Wie bei ihren ersten Gehversuchen begann sie, nach vorn zu blicken. »Irgendwann hörte ich auf, immer nur nachzudenken, ich hörte auf zu weinen, vielleicht weil es keine Tränen mehr gab.« Aber die dunklen Momente kann sie nicht einfach abschalten. Daisy sagt, dass sie durch den Unfall erwachsen geworden sei, noch mehr, sie sei nun, wie der Vater, die Mutter und ihr Freund, ein anderer Mensch als zuvor. Früher regte sie sich über Kleinigkeiten auf, etwa wenn es ein Paar Schuhe nicht mehr in ihrer Größe oder einer bestimmten Farbe gab. Jetzt lacht sie über ihren jüngsten Schuhkauf. Der Verkäufer schwärmte, wie bequem man mit diesem und jenem Schuh abrollen könne. Er hatte nicht gemerkt, dass Daisys Füße starre, gefühllose Prothesen sind.

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Wenn Daisy, mit ihren Röhrenjeans, mit den Paillettenturnschuhen von ihrem Zimmer die Treppe nach oben ins Wohnzimmer steigt, würde einem im ersten Moment auch nichts auffallen, außer dass sie sich am Geländer festhält, ihre Beine vorsichtig aufsetzt, als wären sie zerbrechlich. Aber für sie ist der Anschein des Alltäglichen schwer, schwer wie ein unebener Untergrund, auf dem sie immer wieder aus der Balance kommen kann. »Man wird jeden Abend und jeden Morgen beim An- und Ausziehen, das mühsam ist und oft ewig dauert, daran erinnert.« Daisy sagt, Menschen mit einer schweren Krankheit, die diese überstanden haben, können vielleicht damit abschließen, »aber meine Situation geht nicht vorbei«.

Vor Kurzem war sie wieder auf dem Bahnsteig, aber die Erinnerung kam nicht. Vielleicht sei es besser, sagt Daisy, wenn sie sich nicht an alles erinnere – aber doch an einen Moment wenigstens, zum Beispiel, wie sie ohnmächtig wurde. »Dann könnte ich mich daran festhalten, um abzuschließen und in mein neues Leben zu gehen.«