Das Ende des Alptraums

Was tun, wenn plötzlich das Haustier verschwindet? Vier Geschichten über den Moment des Schreckens - und die endlose Erleichterung beim Wiedersehen.

Die Tiere sind ihre Gefährten: Ina Kirchhoff hält Schafe und Ziegen in Großdingharting bei München.

»Ein Anruf kam: Die Weide ist leer«
Ina Kirchhoff, 46, mit dem Leitschaf Anita und Bromm, dem Bock

Ziegen sind Ausreißerkönige. Ich glaube, sie sind zuerst ausgebrochen und die Schafe sind ihnen hinterher. Jedenfalls bekamen wir einen Anruf von einem Pferdebesitzer, der sagte, unsere Weide sei leer. Das war ein Schock. Die Tiere sind meine Gefährten. Ich lebe eng mit ihnen zusammen, sie vertrauen mir, ich trage die Verantwortung für sie. Auf unserem Hof haben wir zehn Schafe, Bromm, den Bock, und vier Ziegen. Jedes Tier hat seinen Charakter. Wir respektieren sie, stören sie nicht beim Fressen oder Schlafen.
Im Sommer habe ich die Herde auf eine Weide gebracht, die ein paar Kilometer weiter weg ist. Da sollte sie zwei Wochen bleiben.

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Einmal am Tag habe ich sie besucht. Jedes Mal wollten sie mit mir nach Hause fahren und haben am Gatter gedrängelt. Jetzt waren sie einfach losgezogen.

Ich habe mir Sorgen gemacht, die Tiere könnten angefahren worden sein. Und dass Menschen bei so einem Unfall etwas passieren kann, man stellt sich ja alles Mögliche vor. Mein Mann und ich sind sofort hingefahren. Wir sind den Köteln gefolgt. Die Spur führte zur Straße, den Weg kannten sie ja.

Sie sind Richtung Heimat gelaufen, von Kleindingharting nach Großdingharting. Mitten auf der Straße. Wahrscheinlich hat Anita geführt. Sie ist das Leitschaf. Wenn Gefahr droht, stellt sie sich vor die anderen und stampft mit den Beinen, das ist ihre Art zu drohen.

In Großdingharting gibt es einen Tante-Emma-Laden. Passanten hatten gesehen, wie unsere Tiere eine Frau belästigt haben, die gerade Semmeln gekauft hatte. Aber dann haben wir die Spur verloren. Keine Kötel mehr. Das hat mich verrückt gemacht, die Tiere mussten schließlich irgendwo sein, wahrscheinlich ganz in der Nähe. Ich traf immer wieder Leute, die sagten, ja, die Schafe haben wir gesehen. Stundenlang haben wir die Gegend abgesucht.

Schließlich waren sie bei einem Bauern im Stall. Der hatte sie eingesammelt, und genau ihn haben wir zuletzt gefragt. Natürlich haben uns die Tiere wiedererkannt. Sie sind auf uns zugelaufen, zum Hänger spaziert und eingestiegen. Die wollten heim auf den Hof. Und da das Gatter erst repariert werden musste, haben sie ihren Willen bekommen.

Über das Feld ist Laika davongelaufen: Nicole Oertel lebt mit ihrer Familie und der Husky-Hündin in Schleswig-Holstein.

»Ich hab geträumt, dass Laika irgendwo festhängt«
Nicole Oertel, 44 Jahre, mit ihrer Hündin Laika, 8 Jahre

Die Leine ist mir aus den nassen Händen gerutscht. Laika ist sofort losgespurtet, mitten übers Feld. Sie ist freiheitsliebend, wie Huskys eben sind. Das war an einem Freitag, am 15. März. Überall lag Schnee, richtig hoch. Vier Stunden habe ich gerufen und gepfiffen. Ich war wütend. Ich habe mich gefragt, warum das Tier nicht einfach zurückkommt. In den nächsten Tagen haben wir systematisch alles abgesucht, im Umkreis von zwölf Kilometern. Zu acht. Nachts habe ich geträumt, dass sie irgendwo festhängt, und morgens habe ich als Erstes gedacht: Wo kann ich noch suchen?

Am Sonntag schneite es wieder. Das ist es dann gewesen, dachte ich. Ich habe trotzdem Flyer aufgehängt, im Schneesturm, ich kam kaum aus dem Dorf raus. Alle zwei Stunden wurde geräumt. Also habe ich mich hinter ein Räumfahrzeug gehängt und bin bis Logeberg und Krumbeck gefahren, weiter bin ich nicht gekommen.

Ich war aufgewühlt und habe nichts hingekriegt. Habe nicht gestaubsaugt. Wollte kochen, bin dann aber wieder losgefahren. Mein Mann wusste von alldem nichts. Der fährt zur See. Er hätte ja auch nicht helfen können. Dafür sind meine drei Kinder losgezogen, um zu suchen. Sie sind schon acht, 13 und 16 Jahre alt, aber ich habe mir auch Sorgen um sie gemacht, weil hier viele Wildschweine leben. Ich habe viele Anrufe bekommen von Freunden, Nachbarn, von Leuten, die meine Suchmeldung auf Facebook gelesen haben. Mein Eintrag wurde 350 Mal geteilt, und dauernd klingelte das Telefon. Das hat mich ganz verrückt gemacht. Am Mittwoch kam der entscheidende Anruf: Laika wurde gefunden.

Ich habe geheult. Ich wusste nicht, ob sie noch lebt, konnte aber auch nicht fragen, meine Stimme war weg. Ein Mann aus Schashagen hat sie gefunden, das ist nur zwei Kilometer weit weg. Er hatte an der Bushaltestelle meinen Flyer gesehen und dann im Wald ein Wimmern gehört, genau dort, wo ich nicht gesucht hatte. Sie hatte sich mit der Leine im Gestrüpp verheddert. Sechs Tage hatte sie nichts zu fressen, nur Schnee geleckt. Aber sie war gesund und nur etwas abgemagert: Der Schnee hat ihr das Leben gerettet. Nun lasse ich sie nicht mehr von der Leine. Sie würde ja jedem Hasen hinterherlaufen, jederzeit wieder.

»Lilly war nicht da«


»Lilly war weg, bei 20 Grad unter null«
Andrea Borkner, 48 Jahre, mit ihrer Katze Lilly, 2 Jahre

Mittags habe ich gemerkt, dass was nicht stimmt. Lilly war nicht da. Sonst kam sie immer zuverlässig nach Hause. Nachmittags habe ich bei der Tierschutzorganisation Tasso angerufen. »Meinen Sie nicht, die macht einfach einen längeren Ausflug?«, haben die gefragt. Nein, habe ich geantwortet, ich kenne meine Katze.

Lilly blieb sechs Wochen und drei Tage weg. In dieser Zeit habe ich körperliche Probleme bekommen und ein paar Kilo verloren. Erst habe ich Felder, Wiesen und Wälder durchsucht. Mein Sohn hat mir geholfen, er ist 13. Gleich am ersten Abend habe ich Plakate aufgehängt: »Lilly schmerzlich vermisst«. Dann kam die kälteste Nacht im Januar, 20 Grad minus. Ich hatte Angst.

Ich habe Anzeigen aufgegeben in unserer Tageszeitung Der neue Tag und in der Mittelbayerischen. Es kamen Hinweise, Lilly sei außerhalb unseres Ortes gesehen worden. Ich bin jeden Tag rumgefahren. Eine Frau rief an und sagte: Ich hab sie, kommen Sie. Ich bin natürlich hingefahren, aber die Katze sah Lilly nur ähnlich.

Ein paar Tage nach Lillys Verschwinden habe ich gemerkt, dass ich nicht mit jedem über den Verlust reden kann. Viele sagten: Ja, ist halt eine Katze. Die konnten meinen Kummer nicht verstehen. Deshalb habe ich mir ein Internetforum gesucht. Die Mitglieder haben mir Ratschläge gegeben: Nachts solle ich suchen, da höre man die Katzen besser schreien.

Nachts habe ich meinen Mann mitgenommen. Er fand das mit Lilly zwar auch traurig, aber nach ein paar Wochen meinte er: Die kommt nicht wieder. Ich wusste, die Lilly, die ist eine Kämpferin. Ich habe Tierärzte alarmiert. Ich habe auf dem Bauhof angerufen und gefragt, ob eine tote Katze gefunden wurde. Ich habe mit Tierheimen telefoniert. Ich habe Nachbarn gebeten, ob ich in ihre Keller und Garagen rufen darf. Manchmal haben die gefragt: Suchst du immer noch?

Eine Kollegin hat mir vorgeschlagen, Lilly über Facebook zu suchen. Am 11. März haben wir die Vermisstenanzeige gepostet, und am nächsten Mittag klingelte mein Handy, und eine Frau sagte, ich glaube, ich habe Ihre Lilly. Sie sagte, sie habe Lilly zum Tierarzt gebracht, um sie kastrieren zu lassen. Wie, sage ich, die ist doch schon kastriert. Ich habe sofort in der Praxis angerufen. Erst dann haben die Leute den Chip ausgelesen, den sie unter der Haut trägt, und ich wusste sicher: Das ist meine Lilly. Auf der Fahrt zum Tierarzt habe ich vor Aufregung gezittert. Lilly war noch unter Narkose. Mein Gott, ist die schlecht beieinander, habe ich gedacht.

Die Frau, die mich angerufen hatte, wohnt zwanzig Kilometer entfernt in Etsdorf. Lilly hatte dort unter verwilderten Katzen gelebt, die von Anwohnern gefüttert wurden. Nur die Lilly ließ sich streicheln, deshalb wurde die Frau aufmerksam. So weit läuft eine Katze nicht, sagt man. Ich fürchte, dass sie weggebracht wurde. Es hat Wochen gedauert, bis sie sich wieder eingelebt hatte.

Und sie lebt doch: Christine Wolf mit Hündin Sally am Düsseldorfer Rheinufer.

»Ein halbes Jahr lang dachte ich, Sally kommt wieder«
Christine Wolf, 38, mit ihrer Hündin Sally, 9

Wenn ich beruflich unterwegs war, habe ich Sally zu einem Hundesitter in Düsseldorf-Golzheim gebracht. Ich wollte gerade los, nach Hamburg, als sein Anruf kam: Sally ist weggelaufen. Ich bin sofort zu ihm hin. Ich dachte, in einer Stunde habe ich meinen Hund wieder und fahre nach Hamburg. Sally blieb ein Jahr und elf Monate weg. Ich bin nicht nach Hamburg gefahren.

In der ersten Woche kam Sally manchmal zum Haus des Hundesitters zurück, leider immer gerade dann, wenn ich nicht da war. Einmal war sie ganz nah, da kam der Mülllaster und hat sie so erschreckt, dass sie wieder weggelaufen ist. Das andere Mal hatte eine Polizeistreife sie fast am Geschirr, doch dann zischte ein Radrennfahrer vorbei. Sally ist scheu. Mir wurde klar, dass nur ich den Hund einfangen konnte.

Also habe ich mich auf einen Klappstuhl an die Straße gesetzt. Die Leute haben sich gewundert: Was macht die da und warum geht die nicht mehr weg? Ich habe mir ein Buch mitgenommen, es war langweilig, da zu sitzen. Das Gulasch, das ich ausgelegt hatte, hat sich der Fuchs geholt. Ich bin fast gar nicht mehr zu Hause gewesen, war immer in Hetze. Bei jeder neuen Meldung habe ich gehofft. Es war wie eine Schnitzeljagd. Ich war müde.

Nach ein paar Tagen habe ich auf dem Friedhof geschlafen, weil Sally da Futterstellen hatte und Wasser aus den Vasen getrunken hat. Ich habe mich mit einer Thermoskanne Kaffee auf eine Bank in der Nähe des Haupteingangs gesetzt und gewartet, dass der Hund vorbeikommt. Die ersten zwei Stunden hat mir eine Freundin noch Gesellschaft geleistet, aber die hatte dann keine Lust mehr. Kann ich auch verstehen, war ja nichts los.

Nach einer Woche hat es mir gereicht. Ich bin Beamtin, hatte mir Urlaub genommen, um den Hund zu suchen. Mein Sohn war in der Zeit bei meinem Ex-Mann. Er war sechs Jahre alt, genauso alt wie der Hund. Sally macht einen kleinen Ausflug, habe ich meinem Kind erzählt, weil ich dachte, die wird schon wiederkommen. Und als sie nicht kam, habe ich gesagt: Der Hund stammt vom Wolf ab, die sucht sich jetzt ihr Futter selber. Kaninchen oder so. Was sollte ich auch sagen?

Ein halbes Jahr lang dachte ich, der Hund kommt irgendwann wieder. Dann kam ein Anruf vom Ordnungsamt, es sei ein Hundekadaver gesehen worden. Am Rheinufer. Das wird sie gewesen sein, dachte ich. Es war schlimm, Decke und Futternapf wegzuräumen. Ich hätte gerne Gewissheit gehabt. Ich wusste nicht: Soll ich jetzt meine Hundeversicherung kündigen?

Dann wurde Sally doch noch gefunden. Sie war im Tierheim in Witten. Witten! Das ist siebzig Kilometer weg. Sie hat dort eineinhalb Jahre auf der Straße gelebt. Die Presse hat über sie berichtet: Sie war der stadtbekannte Streuner in Witten, bis ein Ehepaar sie gefüttert, betäubt und ins Tierheim gebracht hat. Aber ich lebe in Düsseldorf und lese nicht die Wittener Lokalpresse. Sallys Rückkehr musste ich planen, ich hatte viele ihrer Sachen verschenkt. Und musste mir wieder freinehmen. Am nächsten Tag habe ich sie geholt. Im Tierheim sagte man mir, sie sei wild geworden, da habe ich mir Sorgen gemacht. Aber Sally ist eigentlich nur mutiger geworden. Wir haben die gleichen Rituale wie früher, aber unsere Beziehung ist heute intensiver.

Fotos: Thomas Rabsch, Julia Rotter