Der Mensch sieht rot

Die Füchse haben das Landleben satt, ziehen in die Stadt und passen sich den urbanen Gebräuchen an: Sie fressen gekochtes Essen, spazieren durch die Straßen und leben monogam. Nur ab und zu stört ein Jäger ihren Frieden.

Am Abend, an dem er erschossen wird, hat der alte Fuchs Zahnweh. Schon länger zieht und sticht es im Maul, und diese Schmerzen haben die Jagd nach Mäusen und Wildkaninchen immer mühsamer werden lassen. Seit einigen Tagen aber steigt ihm der Geruch von Katzenfutter in seine Nase, die 400-mal besser riecht als die eines Menschen. Der Geruch zieht von Osten herüber, vom Kloster Warnberg, das im Münchner Stadtteil Solln liegt. Das Kloster gehört nicht zum Revier des alten Fuchses, der im nahen Forstenrieder Park lebt. Sein Nachbar, in dessen Streifgebiet das Kloster fällt, hat seit Tagen keinen dieser süßlich-penetrant riechenden Kothaufen hinterlassen, um sein Revier zu markieren. Und selbst wenn – Füchse nehmen es mit den Grenzen nicht so genau, sie besuchen sich schon mal, ohne sich, wie Rehböcke, halb totzubeißen.

Der alte Fuchs läuft zum Garten des Klosters Warnberg. Jeden Abend verstreuen die Schwestern des heiligen Augustinus Trockenfutter, das eigentlich für ihren Kater gedacht ist. Andere Füchse besuchen zur selben Zeit die Münchner Altenheime, deren Bewohner sich oft nicht trauen, das Essen zurückgehen zu lassen. Und so streifen die Füchse durch die Parkanlagen oder sie stehen gleich unter den Fenstern und warten auf Hühnerknochen, auf Wurst und Käse und was sonst vom Abendessen übrig ist. In Grünwald, nur zwei Kilometer südlich vom Kloster Warnberg, teilen sich mehrere Fuchsfamilien ein Altenheim. Die einen kommen während der Dämmerung, die anderen etwa eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit – so gehen sie sich aus dem Weg und teilen doch eine wunderbare Nahrungsquelle. In rund fünf Prozent der Grünwalder Haushalte gibt es jemanden, der regelmäßig Füchse füttert – so das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Wildbiologie der Technischen Universität München. Dazu kommen mindestens noch einmal so viele Menschen, die ebenfalls Füchse füttern, aber gar nichts davon wissen. Die ihre Hunde draußen auf der Terrasse füttern oder abends ein Schälchen Milch für den Igel im Garten bereitstellen. »So viele Igel gibt’s gar nicht, die das alles wegschlabbern könnten«, sagt der Wildbiologe Andreas König. Er hat für eine Forschungsarbeit der TU Füchse mit Halsbandsensoren ausgestattet und so ihren Weg durch die Gärten verfolgt. »Bis der Hund kapiert, dass der Fuchs an seinem Napf war, ist der längst im nächsten Garten«, sagt König.

Bei ihren Streifzügen, dreißig bis vierzig Kilometer pro Nacht, fressen die Füchse so ziemlich alles, was sich kauen lässt: Sie ziehen Kartoffelschalen aus Komposthaufen, sie reißen zu tief hängende Meisenknödel von den Bäumen, sie fressen Fallobst, Schnecken, kranke Vögel. Bei Regen trotten sie über die Gehsteige und lassen Regenwürmer ins Maul gleiten, die sie draußen im Wald mühsam aus dem Boden ziehen müssten. Dort gibt’s nur wenige von den gelben Müllsäcken, die Füchse so gern aufreißen. Das machen auch Krähen und Katzen. Aber die Krähe pickt nur ein kleines Loch in den Sack, die Katze durchwühlt ihn an Ort und Stelle – Füchse dagegen schnappen sich all die Joghurtbecher, spielen damit und verteilen sie weiträumig in den umliegenden Gärten.

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Die Nonnen vom Kloster Warnberg haben das Katzenfutter nicht verstreut, um den Füchsen eine Freude zu machen, sondern aus Verzweiflung – ein Fuchs, eine Fuchsfamilie, das ginge ja, aber es müssen viel mehr sein, die sich jede Nacht über die Beete hermachen, über Beerensträucher und auch den Hühnerstall. Jetzt haben die Schwestern die Füchse eine Woche lang gefüttert, im Garten vor einem Nebenhaus des Klosters.Der alte Fuchs schlüpft unter dem Gartenzaun durch und macht sich über die Fleischkekse her, die sich viel leichter kauen lassen als Kaninchenknochen. Er hat Menschen im Wind, wie es in der Jägersprache heißt, aber das stört ihn nicht weiter, denn dieser Geruch nach Menschen liegt hier überall in der Luft. Draußen im Wald, da wäre er schon längst weg, aber hier bringt ihn nichts aus der Ruhe. Der Halogenscheinwerfer nicht, der unter dem Fenster im ersten Stock hängt und den Garten in ein kaltes Licht taucht; und auch nicht das leise Knacken, das er vom Fenster her hört. Er hebt den Kopf, dreht die empfindlichen Ohren in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Den Schuss, der nun folgt, hört er nicht mehr. Rund hundert Schrote durchschlagen sein Fell und töten ihn auf der Stelle.

Die Zahl der Füchse, die aus den Wäldern in die Städte drängen, ist in den letzten 15 Jahren enorm gestiegen – denn das Stadtleben ist bequemer und die Tollwut so gut wie ausgerottet. Durch Berlin streifen geschätzte 6000 Füchse, durch Stuttgart 4000, und selbst im überschaubaren Saarlouis sind es Hunderte. Die meiste Zeit leben sie im Freien, nur zweimal im Jahr graben sie Baue: Im Dezember und Januar treffen sie sich dort zur Paarung, im Frühjahr ziehen sie die Jungen darin groß. Deren Überlebens-chancen sind in der Stadt besonders gut. Jungfüchse sterben nämlich häufig in den ersten vier Wochen an Infektionen, ausgelöst durch kalte, feuchte Wände – ein Fuchsbau unter dem Betonfundament einer Garage oder eines Gartenhauses aber bleibt immer trocken.

In München leben rund 2000 Füchse. Im Winter. Im Sommer, wenn die Jungen noch nicht geschossen oder totgefahren sind, können es bis zu 6000 sein. Ihre Reviere sind zwischen 25 und 70 Hektar groß und damit rund zwanzigmal kleiner als draußen auf dem Land. Jeder Fuchs nutzt durchschnittlich 260 Kleingärten von Einfamilien- und Reihenhäusern. Besonders wohl fühlen sie sich in der Nähe von Altenheimen, aber auch von Schulen, wo sie nachts die Pausenbrote aus den Papierkörben holen, in Parkanlagen und Friedhöfen, in den Isarauen und im Grünstreifen entlang der Bahnlinie von München-Pasing zum Hauptbahnhof. Im Grunde tauchen sie überall auf. Der Pförtner im Rathaus am Marienplatz hat nachts schon einen Fuchs vorbeihuschen sehen, und am Stachus wurden welche überfahren.»Der Bürger auf dem Land sieht vielleicht ein- oder zweimal im Leben einen Fuchs – in der Stadt kann das fast täglich passieren«, sagt Anton Fellner, der in München die Untere Jagdbehörde leitet, deren einziger Mitarbeiter er selbst ist. In seinem Büro im Kreisverwaltungsreferat stehen Vitrinen mit ausgestopften Exemplaren der Wildtiere, die es in München gibt: Waschbär, Biber, Iltis, Hermelin, Wespenbussard, Steinkauz, Waldkauz, Eisvogel.

Fellner, der ein Hemd mit Hirschhornknöpfen trägt, hat sein Berufsleben als Verwaltungsangestellter im Einwohnermeldeamt begonnen. Pässe, Lohnsteuerkarten, Meldebescheinigungen. Vor zwanzig Jahren hat er sich für die Untere Jagdbehörde beworben und anschließend einen Jagdkurs und die Jägerprüfung gemacht. Seither kümmert sich der Mann mit dem kurz geschnittenen Vollbart um alles, was »jagdrechtlicher Natur ist«. Er macht Abschusspläne mit den Pächtern der 18 städtischen Jagdreviere, und er er-teilt oder verweigert Sonder-abschussgenehmigungen für die befriedeten Bezirke, aus denen München zu zwei Dritteln besteht – das sind die Wohngegenden und Friedhöfe, in denen nach Artikel 6 des Bayerischen Jagdgesetzes nicht geschossen werden darf. Dieser Artikel ist ein Glücksfall für Füchse. Sie können sich in München sorgloser bewegen als im Wald.
Die Füchse in der Stadt verhalten sich sozialer als die Landfüchse, die Einzelgänger sind und nur während der Aufzucht der Jungen zusammenleben. Die Stadtfüchse aber gründen Familien und leben jahrelang monogam. Der Alpha-Rüde verscheucht nur seine Söhne, wenn sie geschlechtsreif werden. Die Töchter dürfen noch zwei Jahre bleiben und sich an der Aufzucht der Jungen beteiligen. Ihr Vater rührt sie nicht an, denn unter Füchsen gibt es keine Inzucht.

Bei Anton Fellner klingelt das Telefon. Eine ältere Dame ist dran und erklärt, sie habe einen Fuchs gesehen.
»Der muss weg.«
»Wie: weg?«, fragt Fellner.
»Na ja, weg aus meinem Garten. So ein Viech ghört doch raus in die freie Natur.«
»Und was soll ich jetzt machen?«
»Einfangen und rausbringen.«
»Gute Frau, ein Fuchs lässt sich nicht so einfach einfangen. Wenn ich eine Lebendfangfalle aufstelle, dann sitzt zuerst die Katze vom Nachbarn drin. Die muss dann zum Tierpsychologen, und ich hab den Ärger. Und warum soll der Fuchs überhaupt raus? Das sind doch schöne Tiere.«
»Ja, aber der überträgt doch Krankheiten. Dann schießn S ihn halt ab.«
»Hunde und Katzen übertragen auch Krankheiten. Nach dem Jagdgesetz müssen Sie mir schon einen wirtschaftlichen Schaden bringen, dann kann ich sagen, den Fuchs lassen wir bejagen.«
»Ich fürcht mich aber vor dem Fuchs.«
Anton Fellner gibt nach. Angst zählt für ihn auch zu den wirtschaftlichen Schäden. Er nennt der Frau die Telefonnummer eines Jägers: »Den beauftragen Sie mit der Bejagung des Fuchses.«

Die Chancen, dass der Fuchs am Leben bleibt, stehen gut. Von zehn Anrufern wendet sich höchstens einer tatsächlich an den Jäger. Der sagt ihm dann, er müsse die Füchse ein paar Tage lang »anfüttern«, damit sie zur selben Zeit an denselben Platz kommen. Jedem Zweiten ist das zu aufwendig. »Man kann da ganz schön aussieben«, sagt Anton Fellner, »durch die Weitergabe des Auftrags zum Töten.«
Dennoch werden in München im Jahr rund hundert Füchse von Jägern erschossen. Manchmal erwischt es einen Alpha-Rüden. Dann geht die Fuchsplage, die eingedämmt werden sollte, erst richtig los. Sobald der alte Fuchs tot ist, kommt ein jüngerer Rüde, der aus seiner eigenen Familie verscheucht wurde, und nimmt dessen Platz ein. Mit einem Unterschied: Der neue Rüde deckt nicht nur die Fähe, das Weibchen, sondern auch alle ihre Töchter – er ist ja nicht verwandt mit ihnen.
Im Frühsommer umrunden die alten Füchse mit den Jungen das Streifgebiet und bringen ihnen bei, was man als Stadtfuchs wissen muss: wie man die Schnauze durch die Griffe im Mülltonnen-Deckel schiebt oder wie man die Abfallkörbe an den Bus-haltestellen leert. Und weil die Jungen dabei nicht ganz so leise und geschickt wie ihre Eltern sind, gehen zu dieser Zeit auch die meisten Anrufe besorgter Menschen bei Anton Fellner und Andreas König ein.

Weshalb die Leute sich Sorgen machen, hat der Wildbiologe König statistisch erfasst: Dreißig Prozent fürchten sich vor der Tollwut, von der es seit 1958 in Bayern zwei Fälle beim Menschen gegeben hat – in den Achtzigerjahren wurden Impfköder ausgelegt, und seither ist Deutschland nahezu tollwutfrei. 57 Prozent haben Angst vor dem Fuchsbandwurm. Bis vor wenigen Jahren war der Bandwurm für Menschen absolut tödlich. Heute gibt es Medikamente, die aber lebenslang geschluckt werden müssen. »Wir haben in Bayern um die achtzig registrierte Erkrankungen«, sagt König, »aber man muss deswegen nicht hysterisch werden. Nur anpacken sollte man das Problem.« Er selber entwurmt die Füchse, wenn ihn eine Gemeinde beauftragt; an diesen Aktionen, da-rauf legt König Wert, verdiene er nichts.

Anton Fellner von der Unteren Jagdbehörde nennt andere Zahlen: »In ganz Deutsch-land«, sagt er, »gibt’s zwanzig bis dreißig Fälle von Fuchsbandwurm beim Menschen. Diese Krankheit ist äußerst selten.« Tatsächlich werden nur die wenigsten Menschen krank, die über den Fuchskot mit den Bandwurmeiern in Berührung kommen. Fellner ist gegen Entwurmungen: »Man bringt Medikamente in der freien Natur aus, man impft ständig, und irgendwann wird der Fuchs resistent. Außerdem würde das im Jahr im Stadtgebiet München 14000 Euro kosten. Nur das Mittel.«

Was die Krankheitszahlen angeht, liegt die Wahrheit in der Mitte: Seit 2001 müssen Fälle von Fuchsbandwurm beim Robert-Koch-Institut in Berlin gemeldet werden. Von 2001 bis 2006 gab es bundesweit durchschnittlich 18 Neuerkrankungen pro Jahr.Der alte Fuchs, den Anton Fellner beim Kloster Warnberg geschossen hat, war einer der letzten, die er selber getötet hat. Das Tier ist ihm gut im Gedächtnis geblieben, weil es so schlechte Zähne hatte. Wie alle erlegten Füchse brachte Fellner auch diesen zum Landesuntersuchungsamt nach Oberschleißheim, wo ein Test auf Tollwut und Fuchsbandwurm gemacht wurde, beides negativ.

Vor Kurzem hat Fellner seine Jagdlizenz zurückgege-ben. Der Ärger mit der Ober-en und der Höheren Jagdbehörde wurde ihm einfach zu viel: Er hatte keine Lust mehr, dauernd Rehe totschießen zu müssen, die er eigentlich hegen wollte.Das Kloster Warnberg besucht er immer noch. Er steigt die alte Treppe hinauf in den ersten Stock des Nebenhauses, wo es nach Moder riecht, und wischt die Spinnweben vom Stuhl, der am Fenster steht. Dann schaltet er den Halogenscheinwerfer ein und schaut hinaus in die Nacht. So sitzt er da, zwei Stunden, drei Stunden, und beobachtet die seltenen Nachtfalter, die um den Scheinwerfer schwirren. Und meistens taucht irgendwann draußen im Garten auch ein Fuchs auf. Oder ein Steinmarder. Dann schaut Anton Fellner durch sein Fernglas und freut sich.