Die Geschichte meiner Schuhe nahm vor etwa zweieinhalb Monaten ihren Anfang. Draußen wärmte noch der Münchner Sommer den Platz vor meinem Bürofenster. Drinnen trugen die Frauen Flip-Flops und die Männer dunkle Halbschuhe ohne Socken. In meinem Zimmer saßen drei Kolleginnen, um mit mir das Konzept jenes Geschenkeheftes zu besprechen, das Sie gerade lesen. Unsere Sitzung war eigentlich schon zu Ende, als mich die drei Frauen zunächst seltsam fragend ansahen, um mir dann mit gespielter Schüchternheit einen angeblich gut gemeinten Vorschlag zu unterbreiten. Zehn Minuten später verließen die drei johlend mein Büro. Ich hingegen habe seitdem ein Problem, vielmehr: 36 Paar Probleme.
Für ein Memory-Spiel, das im Geschenkeheft versteigert werde, sollten meine Schuhe als Motive dienen. Und weil nach Ansicht der drei Kolleginnen das alles ja so schrecklich lustig sei, wäre es nur konsequent, darüber auch einen Text zu schreiben. Einerseits weil unsere Grafiker dann zwischen die Fotos und die Anzeigen ein bisschen »Grauwert« laufen lassen können (ja, liebe Leser, so reden Grafiker über Buchstaben). Andererseits weil es einfach schön wäre, ein paar Zeilen über das Sammeln von Schuhen zu lesen – von einem, der nach Ansicht einiger besonders männlicher Kollegen deutlich zu viele Schuhe besitzt. Und außerdem, aber das sagten die drei Damen natürlich nicht, weil es grundsätzlich amüsant ist, wenn sich der Chef gegenüber seinen Leuten in aller Öffentlichkeit zum Deppen macht.
Nun gut. Meine Schuhe und ich. Das innigste Verhältnis habe ich zu meinen Bergschuhen sowie einem Paar kastanienbrauner, knöchelhoher Lederstiefel eines italienischen Herstellers. Von keinem der beiden Paar Schuhe würde ich mich jemals freiwillig trennen, die Gründe dafür sind jedoch ganz unterschiedlich. Die Bergschuhe zum Beispiel waren für mich lange Zeit ein Symbol der Unabhängigkeit von meinen Eltern. Dazu muss man wissen, dass mein Vater nicht nur gern auf Berge steigt, sondern es noch viel lieber hatte, wenn ich ihn begleitete. Die Schuhe, die er mir dafür zur Verfügung stellte, waren allerdings zwei Nummern zu groß, weil es sich dabei um seine alten Treter handelte. Zuletzt hatte er mich damit auf den Zischgeles, einen Dreitausender im Stubai, getrieben. Meine Füße brannten danach noch tagelang. Wochen später kratzte ich all mein Taschengeld zusammen und kaufte mir eigene Bergschuhe. Seitdem sind mein Vater und ich in zwanzig Jahren nur noch zweimal gemeinsam auf einen Berg gestiegen.
Die kastanienbraunen Stiefel erinnern mich an einen Urlaub in Italien vor etwa fünf Jahren. Gemeinsam mit meiner damaligen Freundin war ich auf dem Weg von Florenz nach Perugia. Es war schon spät und der Berufsverkehr drückte immer mehr Autos auf die Straßen. Sie wollte in irgendeinem Outlet nach Klamotten suchen. Ich nicht. Wir stritten uns heftig. Dann gab ich (wie immer) nach. Eine halbe Stunde später parkte ich den Wagen vor einer weiß getünchten Lagerhalle, hörte eine schmalzige CD von Lucio Battisti und wartete. Eine Stunde. Noch eine Stunde. Dann ging auch ich in das weiße Lagerhaus. Als wir gegen Mitternacht in Perugia ankamen, öffnete meine Freundin den Kofferraum und sah mich fassungslos an. Vor ihren Augen lagen fünf Paar Schuhe.
»Bist du verrückt?«, fragte sie mich. »Ich befürchte ja«, entgegnete ich ihr. »Ein Mann, der in einer halben Stunde fünf Paar Schuhe kauft, hat einen Vogel«, sagte sie. »Sechs«, sagte ich, »es sind sechs«, und deutete verlegen auf die kastanienbraunen Stiefel an meinen Füßen.
Der anschließende Urlaub verlief anders als geplant. In gewisser Weise bescheidener, denn mein finanzieller Status war nach dem Beutezug durch das Florentiner Outlet vergleichbar mit dem des Haushalts der Stadt Berlin: Ich war pleite. Seitdem meide ich weiße Lagerhallen italienischer Schuhfabrikanten ebenso wie teure Hobbys. Ich besitze kein Premiere-Abonnement, verzichte auf Fernreisen, gehe selten zum Essen und habe mich im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft auch erfolgreich der um sich greifenden Flachbildschirmhysterie widersetzt. Dafür leiste ich mir jedes Jahr zwei bis drei neue Paar Schuhe. Und weil ich ihnen ein Mindestmaß an Pflege angedeihen lasse, ist ihr Bestand mittlerweile eben etwas umfangreicher geworden als allgemein üblich.
Selbstverständlich aber besitze ich nicht 36 Paar Schuhe. Diese Zahl hat jedoch der Hersteller des Spiels vorgegeben, weil alle Memorys aus dem Hause Ravensburger aus zwei Sätzen mit jeweils 36 Spielkarten produziert werden. Ich besitze alles in allem 30 Paar – inklusive Fußballschuhen, Tennisschuhen, Schlittschuhen, Bergschuhen, Skischuhen, Schneeschuhen und Flossen. Um aber kein Spielverderber zu sein und die magische Zahl 36 zu erreichen, bestückte ich die Kollektion mit zusätzlich vier Paar Handschuhen. Darüber hinaus nützte ich die einmalige Gelegenheit und lieh mir für die Fotoaufnahmen bei einem Münchner Schuhgeschäft für einen Vormittag zwei weitere Paar wunderschöner Lederschuhe. Die musste ich aber leider wieder zurückgeben und durfte sie auch nicht im Hofgarten spazieren führen.
Wenn wir also über gute Schuhe reden, dann reden wir nicht nur darüber, dass sie komfortabel sein müssen. Das müssen sie natürlich auch sein. Vor allem aber sollten sie demjenigen, der Tag für Tag seine Füße damit schmückt: gefallen. Und dann reden wir über Farbe, Schnitt und den Verlauf der Nähte. Es geht um das Raffinement in der Verarbeitung und die Anmut der Form. Indiskutabel sind folglich die vor allem hierzulande beliebten Herrenschuhe mit ihrer wurstförmigen Naht von der Spitze zum Schaft. Sie sind Ausdruck missverstandener Eleganz und ästhetisch so zu bewerten wie der gebleichte Jeansrock um die Hüften einer Erfurter Mandy.
»Leider erkennt man an meinen Schuhen, dass ich Schweizer bin«, schrieb Max Frisch in sein Tagebuch. Das war 1946. Der Schriftsteller war gerade in Deutschland angekommen und seinen Schuhen sah man an, dass er mit seinem neuen Umfeld zwar die Sprache, aber nicht die Herkunft teilte. Gute Schuhe waren ein Symbol des Wohlstands. Das hat sich mittlerweile geändert. Schuhe sollten daher nicht unbedingt teuer, aber vor allem schlicht und schmal sein. Ein Schuh ist gleichwohl kein Fetisch und sollte auch nicht dazu erhoben werden. Deshalb darf er auch nicht so viel kosten, dass es beim Gehen schmerzt. Ein anständiger Schuh muss guten Gewissens runtergerockt werden können. Jeden Tag, auf jedem Meter Boulevard. Schritt für Schritt.
»Memory«-Spiel mit 36 Paar Spielkarten, von Ravensburger.
Design des Spiels: Zone für Gestaltung, www.diezone.net
Die anderen Unikate:
Unikat No. 1: Hundehalsband von Adidas
Unikat No. 2: Schlittschuhe von Boss
Unikat No. 3: Hemdkragen mit Hosenträgern von Gilles Rosier
Unikat No. 4: Tischset von René Lezard
Unikat No. 5: Kaminkleid von Jil Sander
Unikat No. 6: Hemd für einen kleinen Hund von Van Laack
Unikat No. 7: Kette und Schlüsselanhänger von Strenesse
Unikat No. 8: Deutschlandfahne aus Kaschmir von Allude
Unikat No. 9: Handyanhänger von Chopard
Unikat No. 11: Schreibmappe von Tod's
Unikat No. 12: Handtasche von Diesel
Unikat No. 13: Papst-Shirt von Swarovski
Unikat No. 14: Kinderauto in Lederausstattung von BMW
Unikat No. 15: Kuschelschnitzel von Lala Berlin
Unikat No. 16: Mini-Schumann's von Lego
Unikat No. 17: Nikolauskostüm von Gudrun Sjödén
Unikat No. 18: Turnschuh-Humidor von Nike
Unikat No. 19: Hängematte von Meltin' Pot
Unikat No. 20: Handbemalte Kinderschuhe von Camper
Unikat No. 21: Schlafsackjacke von Marc O'Polo
Unikat No. 22: Schachspiel von Playmobil
Unikat No. 23: Porzellanfigur von Meissen
Unikat No. 24: Kinderkleid von Rena Lange
Unikat No. 25: Bierbankbezug von Aigner