Als der acht Jahre alte Sohn von Jon Bivens mit einem Stempel auf dem Unterarm aus der Grundschule in Alabama nach Hause kommt, denkt der Vater zunächst, das sei eine »Gut gemacht!«-Auszeichnung. Aber weit gefehlt: Auf dem Stempel steht »Ich brauche Essensgeld«.
»Kann mich die Schule nicht anrufen, wenn Geld fehlt?«, empört sich der Vater. »Mein Sohn ist doch kein Vieh, das man brandmarkt.« Siebtklässlerin Caitlin Dolan musste am ersten Schultag an ihrer Schule in Canonsburg, Pennsylvania, zusehen, wie die Kassiererin ihr Essenstablett samt Pizza, Apfel und Schokomilch in den Müll kippte, weil ihre Eltern die Kantinenkarte nicht aufgefüllt hatten. »Ich habe mich so geschämt«, sagt Caitlin, »alle starrten und tratschten über mich«.
Andere Schulen zwingen arme Kinder, die Fußböden zu schrubben, wenn sie essen wollen. Und in New Mexiko unterzeichnete die Gouverneurin gerade das erste Gesetz, das es unter Strafe stellt, Kinder zu beschämen, wenn ihre Eltern das Essen nicht bezahlen können. »Das Gesetz verpflichtet die Schulen, mit den Eltern eine Lösung auszuarbeiten - und nicht die Kinder für etwas zu bestrafen, das gar nicht in ihrer Verantwortung liegt.«
Amerika hat die schlimmste Kinderarmutsrate in der westlichen Welt: 21,1 Prozent, wenn man die Armutsgrenze als Basis nimmt, weniger als 24 000 Dollar Jahreseinkommen für eine vierköpfige Familie. Jedes fünfte Kind gilt als arm, das sind mehr als 15 Millionen Kinder. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 6,2 Prozent, in Schweden sogar nur 3,6 Prozent. Dabei ist Amerika eines der reichsten Länder der Welt.
»Die Kinderarmut liegt nicht daran, dass sich die Amerikaner nicht um die Kinder kümmerten«, sagt der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz. »Vielmehr hat es damit zu tun, dass Amerika in den vergangenen Jahrzehnten eine politische Agenda verfolgt hat, die ein hohes Maß an Ungleichheit in der Wirtschaft zuließ. Die am stärksten gefährdeten Teile der Gesellschaft fallen so immer weiter zurück.« Amerika, so diagnostizierte Stiglitz im Handelsblatt, »hat die geringste Chancengleichheit unter den Industrieländern«.
Was macht man am besten mit Kindern aus armen Familien? Die deutsche Antwort: Hartz IV. Die amerikanische: an den Pranger stellen, nach dem Motto: Das wird ihnen eine Lehre sein. Städtebau-Minister Ben Carson nannte Armut gerade »einen Geisteszustand«. Übersetzt heißt seine Botschaft: Du bist selbst an deiner Misere schuld. Hartnäckig hält sich der Mythos vom American Dream: Man müsse nur hart arbeiten, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Dabei arbeiten die meisten Armen in Amerika, oft haben sie sogar mehrere Jobs, die Hungerlöhne reichen nur nicht, um die Familie zu ernähren und Arztrechnungen zu bezahlen.
Die Klassengegensätze sind in Amerika wesentlich größer als bei uns: Die reichsten 10 Prozent der Amerikaner teilen sich laut des Credit Suisse Global Wealth Reports 75 Prozent des amerikanischen Wohlstands – das ist der krasseste Gegensatz zwischen arm und reich seit den zwanziger Jahren.
Den höchsten Preis dafür zahlen die Kinder, und Amerika tut alles dafür, die Klassengegensätze weiter zu verschärfen. Vor einigen Wochen haben wir darüber berichtet, dass es in den meisten amerikanischen Staaten keinen mit europäischen Standards auch nur ansatzweise vergleichbaren gesetzlichen Mutterschutz gibt und kein Elterngeld. Es gibt auch kein Kindergeld. Nicht nur deshalb stammen 75 Prozent der Studenten an den Elite-Schulen aus wohlhabenden Familien.
Arme Kinder leiden mehr als doppelt so häufig an Asthma und Lernschwächen. Dabei gibt es unzählige Studien, die nachweisen, dass ein Land am meisten davon profitiert, wenn es in die Bildung von einkommensschwachen Kindern investiert. Noch gravierender fällt die Bilanz aus, wenn man sieht, wo der Wohlstand wohnt: Weiße Haushalte besitzen im Durchschnitt sieben Mal soviel Wohlstand wie schwarze (und sechs Mal soviel wie Latinos).
Bis heute leben zwei Drittel der Schwarzen in einkommensschwachen Vierteln, die meist mit schlechteren Schulen und weniger Erwerbsmöglichkeiten ausgestattet sind. Schwarze sind fast doppelt so häufig arbeitslos wie Weiße, das gilt sogar für Akademiker. Als ein Harvard-Professor für eine Studie Bewerbungen mit »schwarz« und »weiß« klingenden Namen verschickte, bekamen die Bewerber, von denen die Firmen annahmen, sie seien weiß, bei gleicher Qualifikation doppelt so oft Einladungen für Vorstellungsgespräche. Auch viele der Hilfsprogramme für Einkommensschwache bevorteilen Weiße.
In diesem Mosaik der Diskriminierung wirkt es wie Hohn, den Ärmsten zu predigen, sie müssten sich einfach nur mehr anstrengen. Der Haushaltsplan, den Trump vorgestellt hat, sieht aber gerade bei den Ärmsten extreme Einsparungen vor: Trump will mehr als 3 Billionen (umgerechnet 3208127328000 Euro) aus dem ohnehin schon löchrigen sozialen Netz schneiden, um damit Aufrüstung, Steuergeschenke für Megareiche und die Mexiko-Mauer zu finanzieren.
Allein bei den Essensmarken (das Programm SNAP, das derzeit 44 Millionen Menschen versorgt) will er in den nächsten zehn Jahren fast 200 Milliarden Dollar einsparen, die Kürzungen treffen vor allem Großfamilien mit vielen Kindern, Senioren und Menschen mit Behinderungen. Krankenversicherung für Kinder aus einkommensschwachen Familien (das Childrens Health Insurance Program, das im Augenblick 9 Millionen Kinder versichert) soll nicht erneuert werden. Medicaid, die Krankenversicherung für Einkommensschwache, soll halbiert werden. Ausbildungsprogramme sollen um 13 Prozent oder 10,6 Milliarden Dollar gekürzt werden. Förderungsprogramme und Essensausgabe für sozial schwache Kinder? Gestrichen, gekürzt, nicht verlängert.
Budget-Direktor Mick Mulvaney verkauft die extreme Aushöhlung des Sozialnetzes zugunsten Steuererleichterungen für die Megareichen als Akt des Mitgefühls: »Wir messen Mitgefühl jetzt nicht mehr an der Zahl der Programme oder die Zahl der Menschen, die von diesen Programmen profitieren«, sagte Mulvaney gerade lächelnd, »sondern wir wollen Mitgefühl, echtes Mitgefühl, an der Zahl der Menschen messen, die wir aus diesen Programmen herausnehmen«.
Er hat dem Haushaltsentwurf einen großartigen Titel verpasst, nämlich »Die Grundlage für Amerikas Großartigkeit«. Kritiker nennen es das »Robin-Hood-Budget, nur umgekehrt«: Man nehme den Armen Geld weg und gebe es den Reichen.
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