Hinter dem Stacheldrahtzaun im Stock Island Detention Center in Florida wird man als erstes von Albert begrüßt, einer 50 Jahre alten afrikanischen Riesenschildkröte. Albert ist der einzige Insasse, der in diesem Knast frei herumlaufen darf. Misty, der Kakadu, kräht aus ihrem Käfig: »I love you! I love you!« Sogar Hemingway sitzt hier ein, jedenfalls hört der Riesen-Tukan auf den Namen des berühmten Autors. Was wohl alle diese Tiere verbrochen haben, dass sie im Gefängnis gelandet sind?
Es begann mit einer Schar Enten. Weil die Enten regelmäßig auf der Straße, die zum Stock Island Detention Center führt, totgefahren wurden, nahm das Gefängnis eine Gruppe in ihre Obhut und legte einen Teich an. Das war vor 20 Jahren. Es sprach sich herum, dass die Gefängnisleiterin ein Herz für Tiere hat: Als nächstes wurde sie gefragt, ob sie ein blindes, todgeweihtes Pferd aufnehmen könne. Die Häftlinge bauten einen Stall, und so fügte sich eins zum anderen. Jeanne Selander ist nun nicht nur Gefängniswärterin, sondern auch Zoo-Chefin, und zwar des einzigen Gefängnis-Zoos in ganz Amerika.
Bekanntlich sperrt kein Land der Welt mehr Menschen ein als Amerika. Im Augenblick sitzen dort 2,2 Millionen Menschen im Gefängnis - viermal so viel wie in China oder Russland. Das liegt nicht wirklich daran, dass in Amerika vier Mal so viele Verbrechen begangen werden, sondern an den drakonischen Strafen, die auch für Bagatell-Delikte verhängt werden. So stellen die Vereinigten Staaten zwar nur fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber ein Viertel der Häftlinge weltweit.
Über die Gründe dafür und die dringend nötigen Reformen wird seit Jahren diskutiert, aber bisher ging wenig voran. Wer schon einmal in einem amerikanischen Gefängnis war, weiß, dass die Bedingungen dort oft unmenschlich und brutal sind. Gerade erst hat das Justizministerium beschlossen, wegen der vielen Missstände alle privat geführten Gefängnisse aufzulösen. Da lobe ich mir die innovativen Ideen, Knaste in Horte der Kreativität zu verwandeln.
Auf Stock Island füttern und pflegen ein Dutzend Insassen in orangefarbenen Gefängnis-Uniformen inzwischen mehr als 100 vierbeinige oder gefiederte Insassen: Ghost, ein blinder Schimmel, der von seinem Besitzer einfach am Straßenrand ausgesetzt wurde; BamBam, das halb blinde Miniatur-Pferd und seine beiden Freunde; ein Dutzend Hängebauchschweine; das Krokodil Boots; der Stier Angus; eine Albino-Pythonschlange; der Lemur Kelsie, zwei Alpacas, elf Tauben und das Stinktier Chanel. Aber die Lieblinge aller Besucher sind Mo und Meggie, die Faultiere. »Die Leute denken, die Faultiere würden mit mir kuscheln«, sagt Selander, während Mo sich um ihren Hals hängt, »dabei verwechseln sie mich nur mit einem Baum.«
Nur einen Unterschied gibt es zu »normalen« Tierparks: Die Gefängnisinsassen dürfen den Tieren weder Medikamente noch frische Früchte verabreichen. Das machen die Gefängniswärter lieber selber, »denn sonst wäre die Gefahr zu groß, dass die Insassen was für sich selbst abzweigen.«
In gewisser Weise geht es Hunden in Tierheimen ähnlich wie den Underdogs im Gefängnis: Beide führen ein Leben hinter Gittern. Das dachten sich jedenfalls Offiziere des California Department of Corrections & Rehabilitation (CDCR) und sprachen vor zwei Jahren die Tierschutzorganisation Karma Rescue in Los Angeles an: Könnten sich die Tierschützer vorstellen, Hunde ins Gefängnis zu schicken? Für ein Drittel der Hunde endet ihr Tierheim-Aufenthalt nämlich nicht mit der Freilassung, sondern mit der Todesstrafe. Jeden Tag werden 8000 Hund und Katzen in amerikanischen Tierheimen aus Platzmangel getötet.
Nun rettet Karma Rescue regelmäßig Hunde aus den High-Kill-Tierheimen der Stadt und bringt sie in das California State Prison. Ähnliche Initiativen gibt es auch in anderen Städten, aber das Paws for Life Programm ist das einzige, das Hunde im Hochsicherheitsgefängnis trainiert. Zwölf Wochen lang teilen sich die Hunde dann eine Zelle mit einem zu lebenslänglich verurteilten Straftäter, der ihnen (unter Aufsicht der Hundetrainer von Karma Rescue) Sitz! Platz! Fuß! beibringt, damit sie das Good Canine Citizen Zertiftikat schaffen. Für die Hunde erhöhen sich damit die Chancen, nach der Freilassung adoptiert zu werden, aber es hatte wohl niemand damit gerechnet, dass es die zweibeinigen Insassen sind, die durch das Programm eine ganz neue Perspektive finden: Der Hund bringe »Freude in diesen elenden Ort«, meint Chris M., der hier lebenslänglich einsitzt, »und er gibt mir das Gefühl, dass ich etwas wert bin, weil ich etwas Positives mache.«
»Das Gefängnis ist oft deprimierend, und man zeigt keine Emotionen«, sagt Captain Crystal Wood, die das Paws for Life-Programm mitinitiiert hat. »Die Hunde aber haben keinen Filter, sie drücken ihre Zuneigung aus, und wir sehen Männer, die seit 20 oder 30 Jahren im Gefängnis sitzen und weinend zusammen brechen, weil sie zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder Mitgefühl und Nähe erfahren.«
Die vielleicht unglaublichste Verwandlung eines Gefängnisses allerdings findet derzeit im kalifornischen Coalinga statt. Einer der Gründe, warum so viele Menschen in Amerika im Gefängnis sitzen, ist, dass das Handeln mit und Konsumieren von Cannabis bis vor wenigen Jahren mit ähnlichen Strafen belegt wurde wie der Handel mit Kokain und Heroin. Nun sitzen also Menschen zwanzigjährige Haftstrafen dafür ab, dass sie drei Joints verkauften, obwohl Cannabis inzwischen in vielen amerikanischen Staaten legalisiert oder für medizinische Zwecke freigegeben wurde. Noch im vergangenen Jahr wurden mehr als 700.000 Menschen in Amerika für Cannabis-Delikte verhaftet, die meisten nur für Besitz.
Was liegt da näher als am besten gleich ein Gefängnis in eine Marihuana-Plantage zu verwandeln?
Genau das hat der Stadtrat im kalifornischen Coalinga gerade beschlossen: Im alten Gefängnis der Stadt wird demnächst im großen Stil Marihuana für medizinische Zwecke angebaut. Das wird ganz nebenbei die Verschuldung der Stadt beenden und sei, sagte der Stadtrat, eine »grünere Alternative«.
Die Firma Ocean Grow Extracts hat das seit fünf Jahren leer stehende Claremont Custody Center für gut vier Millionen Dollar gekauft, um darin Marihuana anzupflanzen und Cannabis-Öl für den medizinischen Bedarf herzustellen. Statt elektronischer Fussfesseln für die Ex-Häftline müssen nun Tracking-Marker an den Cannabis-Pflanzen befestigt werden, damit sie keiner stiehlt. Der Bürgermeister von Coalinga, Patrick Keough, zitierte nach dem Beschluss sogar die Grateful Dead: »What a long, strange trip it's been.«
Schwerter zu Pflugscharen, Gefängnisse zu Marihuana-Farmen! Da könnte man noch auf ganz andere Ideen kommen: Wenn in den Gefängnissen auch Opium angebaut und Meth gemischt wird, können die USA künftig ihren Drogen-Eigenbedarf ganz ohne Importe decken. Man könnte Gefängnisse zu Pokémon Safe Zones erklären, damit keine Pokémon- Go-Jäger mehr von Klippen stürzen. Oder Donald Trump seinen sehnlichen Wunsch nach einer Mauer erfüllen und ihn seine Rallys mit den »Lock her up!«-Rufen gleich hinter hohen Mauern veranstalten lassen, damit keine Demonstranten mehr zu Schaden kommen. Raus darf er dann erst wieder, wenn er wie die Dobermänner endlich gute Manieren gelernt hat und niemandem mehr gefährlich wird.
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