In meiner Generation erinnern sich viele an ihre erste CD so gut wie an den ersten Kuss. Das liegt auch daran, dass diese Technologie damals so neu und unerhört futuristisch war. Noch mehr als das erste Buch oder der erste Lieblingsfilm stand meine erste Maxi-CD für den Beginn eines neues Zeitalters: Endlich keine dumpf klingenden Kassetten mehr, sondern diese kleine, funkelnde Scheibe, ein Stück Zukunft.
Jetzt liegt sie im Keller, meine erste CD (die Single »Without You« von Mariah Carey - ich bitte um Verständnis, ich war elf Jahre alt). Und mit ihr all die anderen über die Jahre angesammelten Alben, Singles, Doppel-CDs, geschichtet in Umzugskisten, die langsam die Feuchtigkeit eines hundert Jahre alten Kellers in sich aufnehmen. Ich habe meine CD-Sammlung einfach nicht wieder ausgepackt, nachdem ich Ende letzten Jahres in eine neue Wohnung gezogen bin. Und ich empfinde das nicht als Verlust, sondern als Erleichterung.
Dabei ist das viel mehr als der Abschied von ein paar Kilo Plastik. Ich lasse eine ganze Epoche meines Lebens im Keller. Okay, es sind nicht atemberaubend viele; eher 300 als 3.000, durchgezählt habe ich sie nie. Doch vor 15 Jahren haben sie mir mehr bedeutet als fast alles andere: Ich sah diese Sammlung als sorgsam zusammengestellt Repräsentation meines individuellen Geschmacks, als alternativen Lebenslauf, musikalische Manifestation meiner Persönlichkeit. Ich höre, also bin ich: Unplugged in New York, Wir kommen um uns zu beschweren, Wo ist hier?, Tonight’s The Night, Bringing it all back home, diese Alben waren wie gute Freunde für mich. Mit überbordendem Stolz brachte ich die Platte Itch von Radiohead in die Schule mit (»Japan-Import, Oida!«), oder ich präsentierte die englische Version des Albums K.O.O.K. von Tocotronic (»Die taucht in keiner Diskografie auf. Geheim!«). Nicht einmal diese Scheiben, einst meine größten Schätze, sind mir heute noch wichtig. Was ist da bloß zwischen uns passiert, liebe CDs?
Es war kein plötzlicher Bruch, mehr eine jahrelang anwachsendes Gefühl der Entfremdung: Irgendwann habe ich angefangen, mp3s zu hören, dann zu streamen; CDs habe ich immer seltener eingelegt - und irgendwann dann überhaupt nicht mehr. Meine Lieblingsalben habe ich längst auf Vinyl: Das Knistern und Knacken der aufsetzenden Plattennadel verhält sich zum Surren eines sich schließenden CD-Fachs wie das Geräusch eines Lagerfeuers zum Brummen eines elektrischen Heizlüfters.
Schallplatten sind für mich weniger Nostalgie, sondern eher eine Investition in die Zukunft. Im Gegensatz dazu sind viele der Scheiben im Keller heute schon zu zerkratzt, um sie überhaupt noch abspielen zu können. Sie haben mich ein paar Jahre lang bei jeder Autofahrt begleitet - das ist tödlich für CDs. Aber ist ihre Funktionsuntüchtigkeit schon ein Grund, sie in den Keller zu verbannen? Schließlich habe ich auch hunderte Bücher in den Regale meiner neuen Wohnung stehen, von denen ich weiß, dass ich sie nie wieder lesen werde.
Mit CDs aber ist das anders - vermutlich weil es kaum etwas gibt, was die Auswüchse der Wegwerfgesellschaft so verdeutlicht wie die Compact Disc: mit Aluminium bedampfte Polycarbonat-Scheiben, eingepackt in Hüllen aus billigstem Plastik, mit Scharnieren, die genauso schnell brechen wie die kleinen Zapfen, die eigentlich die Scheibe in der Hülle halten sollten. Ganz abgesehen davon, dass auch die Schreibe selbst früher oder später ihren Geist aufgibt und nicht mehr lesbar ist. Sie war von Anfang an ein Wegwerfprodukt. Dem entsprechen auch die Orte, wo ich die meisten von ihnen gekauft habe, nämlich eben nicht im gut sortierten Plattenladen, sondern in den gesichtslosen Filialen von Elektro-Fachmärkten.
Dazu kommt die fürchterliche Fehleinschätzung aus meiner Jugend, dass von Freunden gebrannte CDs es auch tun. Einige meiner liebsten Alben hatte ich ausschließlich als Kopien. Mit 14 Jahren schien das eine gute Idee: Label und Booklet selbst ausdrucken, Geld sparen, die Industrie austricksen. In Wahrheit hat die Kopiererei eine ohnehin schon billige Technologie noch weiter entwertet. Selbstgebrannte CDs geben im Übrigen noch viel schneller den Geist auf.
Dass meine Lieblingsmusik auf derart wertlose Plastikscheiben gepresst war, dafür kann weder sie noch ich etwas. So viel ich mit den Bands meiner Jugend heute noch verbinde, so wenig bedeuten mir die abgekratzten Scheiben in den zerbrochenen Hüllen, auf denen ihre Musik gespeichert ist. Die älteren Kollegen können bis heute stolz auf ihre Plattensammlungen sein, sie noch im hohen Alter auflegen, ja sogar an ihre Kinder vererben. Ich hingegen habe nur ein paar Kilo wertloses Plastik im Keller liegen, die niemals wieder jemanden interessieren werden. Zurück bleibt ein schales Gefühl: Ist die Musik meiner Jugend damit auch weniger wert als eure, nur weil sie nicht in edlem Schwarz, sondern in Regenbogenfarben glänzt?
Ein wenig tröstet mich der Gedanke, dass das Abspielmedium der Musik selbst eben doch keinen Schaden zufügen kann. Was täte sonst die Generation nach mir? Erinnert sie sich später an die erste Spotify-Playlist? Den ersten shazamten Titel? Den erste Kaufbeleg von iTunes oder Deezer? Vielleicht braucht Musik gar kein Trägermedium, an das sich die Erinnerung anhaften kann. Man erinnert sich dann eben doch lieber an den ersten Kuss als an die erste CD. Oder zumindest daran, welches Lied dabei im Hintergrund lief.