Am 13. Mai 2012 war Deutschland ein anderes Land.
Borussia Dortmund ist gerade zum zweiten Mal in Folge Meister geworden. Dass die Eröffnung des Berliner Großflughafens verschoben werden muss, ist eine überraschende Meldung. Und bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erreicht die Piratenpartei 7,8 Prozent der Stimmen und zieht mit zwanzig Abgeordneten in das vierte Landesparlament hintereinander ein.
Der Höhepunkt des Piratenhypes ist erreicht. In bundesweiten Umfragen liegt die Partei bei zehn Prozent, aber es ist noch ein Jahr bis zur Bundestagswahl. Die Mitgliederzahl hatte sich bereits 2009 innerhalb weniger Monate verzehnfacht, 2011 nochmals verdreifacht, fast 35 000 Deutsche sind jetzt Piraten. Wir alle, das ganze Land, ja, mehr noch: das ganze System wird zu dieser Zeit gekapert, geentert, gehackt, geupdatet, geresettet und so weiter, Sie erinnern sich an die Vokabeln.
Am Abend der NRW-Wahl verkündet der Vorsitzende Bernd Schlömer: »Die Piratenpartei ist jetzt angekommen im Parlamentssystem, im Parteiensystem – und ist eine ernstzunehmende politische Kraft in Deutschland!« Ob sie immer ernst genommen wurden, sei mal dahingestellt, aber jedenfalls waren die Piraten wirklich überall im Frühling des Jahres 2012, jeden Abend saß einer von ihnen – der Freak, der Karrierist, die Smarte, die Geheimnisvolle – bei LanzMaischbergerIllnerSterntv und erzählte von sexuellen Vorlieben, den Vorzügen des Wachhaltegetränks Club Mate oder der Lameheit von Totholz-Presse und Oldschoolparteien und alle lachten und fanden das herrlich und eklig und wichtig und verwirrend und gefährlich und geil zugleich. Und wenn mal wieder Piraten-Parteitag war, und irgendwo war immer Piratenparteitag, dann livetickerten die großen Nachrichtenseiten um die Wette und informierten halbminütlich darüber, dass Mädchen in Mangakostümen, die auf ihre Laptops Zettelchen mit halbironischen Sprüchen geklebt hatten, mit Männern, deren Körper von Lan-Partys geformt und in Einhorn-T-Shirts gezwängt waren, um die Tagesordnung stritten.
Ich war damals als Reporter für ein Magazin tätig, das sich an »junge Erwachsene« richtete, an Dreiviertelerwachsene sozusagen, und weil ich in dieser Funktion zwangsläufig auch mit den Dreiviertelpolitikern von der Piratenpartei zu tun hatte, kam es, dass ich ständig von Radio- oder TV-Kollegen darum gebeten wurde, an einer der vielen zusätzlich zu LanzMaischbergerIllnerSterntv stattfindenden und nur mit Journalisten bestückten Radio- oder TV-Diskussionen über die Piratenpartei teilzunehmen und so saßen wir dann in der Runde und redeten über Bürgerbeteiligung und Transparenz, über Liquid Democracy und fahrscheinlosen Nahverkehr, über das Urheberrecht und den Überwachungsstaat, über ein fehlendes Programm und Parallelen zu den Grünen und darüber, was der Erfolg der Piraten zu bedeuten habe und wie lange er wohl anhalten würde, und eigentlich waren wir genauso ahnungslos und überfordert wie jeder Piraten-Abgeordnete, der sich zeitgleich plötzlich mit den Regeln des parlamentarischen Betriebs befassen musste. Das, was passierte, war für alle Beteiligten mehr als nur unwahrscheinlich.
Das ist so lange her.
Das Magazin für Dreiviertelerwachsene ist in die Jahre gekommen, ich sowieso. Und diesen Sonntag, am 14. Mai 2017, wird in Nordrhein-Westfalen wieder ein Landtag gewählt. Wenn es gut läuft, kommen die Piraten auf zwei Prozent. An diesem Wochenende verabschieden wir uns also von den letzten verbliebenen Piraten in deutschen Parlamenten. Abgesänge werden deshalb dieser Tage viele veröffentlicht. Darin werden noch mal die peinlichsten Peinlichkeiten und die kuriosesten Köstlichkeiten aus dem Parlamentsalltag der Piraten erwähnt (wollen Sie wirklich noch mal lesen, was die NRW-Abgeordnete Birgit Rydlewski einst getwittert hat? Also schön:
So: Allen lieben Dank, die wegen des gerissenen Kondoms mitgezittert haben. Alle Tests negativ! ( also kein HIV, Hep. B, Hep. C).
Die Geschichte der Piraten ist zu Ende erzählt: Eine Ein-Themen-Partei trifft den Nerv einer Zeit und Generation, bekommt aufgrund ihrer Buntheit ungeahnte Aufmerksamkeit und wird mit dem Versprechen »Wir sind die Anderen« dann auch für klassische Protestwähler interessant und über die Fünf-Prozent-Hürden gehievt. Doch die realpolitischen Abläufe lähmen die Partei und der massenhafte Mitglieder-Zustrom zerfleischt sie zugleich. Die Strukturen können mit dem Wachstum nicht mithalten, das Versprechen der Beteiligung aller lässt sich nicht halten, eine klare inhaltliche Linie ist nicht zu finden. Tausende neue Mitglieder bringen tausende neue Themen. Die Piratenpartei wird regelrecht getrollt von reinen Dagegenseiern, von Berufsprotestlern und pathologischen Mehrheitshassern, schließlich auch von widerlichen Antisemiten und selbstverständlich von argen Sexisten, schlicht von Verwirrten aller Art.
Aus dem Humor wird auf den Parteitagen bald Horror.
So. Fertig. Und trotzdem ist dieser Abschied von den Piraten im Parlament, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein endgültiger ist, vielleicht ein guter Moment, um sich noch einmal vor Augen zu halten, wie besonders dieser Hype, der jetzt endet, wirklich war, damals, vor fünf Jahren. Worum es eigentlich ging.
Lassen wir mal die Häme und die Rechthaberei weg, mit der sich der berechtigte und wohl unvermeidliche Niedergang der Piratenpartei schildern lässt. Denken wir noch weiter zurück, ins Jahr 2009, als Frank Schirrmacher den einen, den großen, den alle Dimensionen klar machenden Text zu den Piraten schrieb, in dem es über den Aufstieg der Partei heißt:
»[…] zu glauben, es handele sich um das Partikularinteresse einer partikularen Öffentlichkeit, wäre ein großer Fehler. Was wir erleben, ist der Übertritt einer anderen Intelligenzform in den Bereich der Politik.« Und weiter: »[…] es ist entscheidend, dass man erkennt, dass die Informationsgesellschaft auf andere Weise, aber mit ähnlicher Dramatik unser Leben revolutioniert, wie es einst die Maschinenparks des industriellen Zeitalters taten. Und dazu brauchen wir Nerds. Sie sind eine politische Kraft, ziehen Nicht-Nerds an sich heran und werden bald auch die anderen Parteien verändern.«
Schirrmacher hat wie immer Recht behalten. Die Piraten haben nicht nur junge Menschen überhaupt erst für Parteipolitik begeistert und große politische Talente hervorgebracht, die nun in anderen Parteien weitermachen (Martin Delius und Julia Schramm bei der Linken, Christopher Lauer bei der SPD, Sebastian Nerz bei der FDP, um nur die wichtigsten zu nennen), sie haben mit ihrer Vehemenz und mit der von ihnen erzeugten Resonanz bei Themen wie Internetsperren, Vorratsdatenspeicherung oder Breitbandversorgung überhaupt erst dafür gesorgt, dass Fragen und Stimmen unseres digitalen Alltags in den großen Parteien wahrgenommen werden, zaghaft, aber zunehmend, und dass Bürgerbeteiligung zu einem beliebten Schlagwort wurde. Auch wenn freilich die Bundestagswahl 2013 gezeigt hat, da begann ja das Ende der Piraten, dass die sogenannte »Netzpolitik« keine Wahlen entscheidet, wenn es drauf ankommt, egal, wie offensichtlich kurz nach Bekanntwerden des NSA-Skandals das Unrecht und die Dringlichkeit waren.
Zwei Jahre nach dem Schirrmacher-Text schrieb Juli Zeh für das SZ-Magazin ein vielbeachtetes Essay, in dem sie bekräftigt, dass es falsch wäre, die Piratenpartei zu einer »Internetpartei« zu schrumpfen:
»Wer das Potential der Piratenpartei verstehen will, muss zunächst einsehen, dass ›Internet‹ mehr bedeutet als ein technisches Hilfsmittel, für das man vielleicht ein paar geänderte Gesetze braucht. Es ist Geburtsort und Lebensraum der Kommunikationsgesellschaft und somit Chiffre für einen Epochenwandel, der eines Tages im Rückblick als ebenso einschneidend gelten wird wie die Erfindung von Zügen, Autos und Flugzeugen. Ein weiterer Schritt im Bemühen, der Menschheit, Zeit und Raum zu überwinden. Beim Überwinden von Grenzen geht es um Freiheit. Hier haben wir den Punkt, der offensichtlich so schwer zu vermitteln ist: Die Piraten sind keine Internet-, sondern eine Freiheitspartei.«
Zumindest hätten sie eine werden können, aber Martin Delius, der im Berliner Abgeordnetenhaus zur wichtigsten Stimme bei der Aufklärung des Flughafen-Desasters wurde, hat auf die Frage, warum die Piraten gescheitert sind, mal erklärt: »Weil die Piratenpartei nie politisch war. Die internen Streitigkeiten verliefen nie an unterschiedlichen inhaltlichen Auffassungen, sondern immer auf persönlicher Ebene.« So wurde aus kühnen Debatten über unser aller Miteinander ein schmutziges Gegeneinander.
Auch im Jahr 2017 wird aller Voraussicht nach eine Partei aus dem Nichts erstmals in den Landtag von Nordrhein-Westfalen einziehen. Die AfD. Fünf Jahre nach dem bundesweiten Umfragehoch der Piraten liegt sie nun, nur wenige Monate vor der Bundestagswahl, deutschlandweit bei zehn Prozent. Die AfD ist 2017 das, was die Piraten 2012 waren: die Protestpartei, die alle Parteien vor sich her treibt. Aber obwohl die Piraten bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin vergangenes Jahr tatsächlich 11 000 Stimmen an die AfD verloren haben, gibt es doch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, zwischen den Parteien ohnehin, aber vor allem zwischen den Höhenflügen dieser beiden Parteien. Der wichtigste: Der Erfolg der AfD basiert auf einem viel breiteren gesellschaftlichen Potenzial, leider. Zehn Prozent für eine ziemlich gestrige rechtspopulistische Partei sind wohl realistisch. Zehn Prozent für eine zukunftsgewandte Nerd-Partei sind natürlich völlig verrückt.
Ja, in diesem Frühling 2012, in den Nachbarländern waren rechte Parteien bereits im Aufwind, dachte man für einen kurzen Moment, ein nennenswerter Teil der deutschen Wähler sei so mutig, Nerds zu wählen, eine Utopie, eine Idee, eine ganz gute. Wie harmlos und zugleich aufregend das aus heutiger Sicht klingt.
Die Piratenpartei war ein Zusammenschluss von gesellschaftlichen Außenseitern, die an den Fortschritt und an Fakten glaubten und die mit ihren neuen Organisations-Tools einfache Fragen stellten – wie wollen wir Politik machen? – und damit alles in Frage. Die AfD dagegen, auch als Ein-Themen-Partei gestartet, ist ein Haufen von Profiteuren unserer Gesellschaft, die Angst vor dem Morgen, Probleme mit dem Heute und Fantasien über das Gestern haben und gerne abseits der Fakten argumentieren und nichts anzubieten haben als einfache Antworten. Die Piraten, egal, was man von Ihnen halten mag, standen für Beteiligung. Für Aufbruch. Für das Mehr. Die AfD steht für Ausgrenzung. Für Abschottung. Für das Weniger. Die Protestparteien der Jahre 2012 und 2017 könnten, auch wenn sie zum Teil dieselben Protagonisten und Wähler anlockten, unterschiedlicher nicht sein. Der Kontrast nicht deprimierender.
Deswegen, auch wenn es kurz vor knapp kommt: Danke Piraten, danke für diese kurze Illusion, dass in Deutschland auch ein progressiver Populismus gewählt werden könnte. Danke für diese kurze, hoffentlich nachhaltige Störung der Parteienlandschaft.
Tschüß.
Und viel Erfolg dabei, in den anderen Parteien, in die es euch jetzt führt, in die bewährten und handlungsfähigen Parteien, an einer neuen Definition von Freiheit und Gesellschaft zu arbeiten. Die Piratenpartei ist Vergangenheit. Aber die Zukunft, sie ist ja noch immer aktuell.
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