So beschreibt ein Kollege seinen ersten Eindruck von der Reeperbahn: Er, Hamburg-Neuling, will die bedeutenden Stätten der Stadt besichtigen. Also besteigt er die S-Bahn Richtung Reeperbahn. Kaum haben sich dort die Türen geöffnet, stürzt ihm ein Mann entgegen: tränenüberströmt, ohne Schuhe, mit dramatisch verschmiertem Make-up, zerzauster Perücke, Netzstrümpfen und Minikleid. Dieses Bild, sagt der Kollege, habe er nie vergessen. Vielleicht ist es auch dieses Bild, das die Reeperbahn am besten beschreibt.
Die ein wenig in die Jahre gekommene Hamburger Rotlichtstraße zwischen Millern- und Nobistor ist der Inbegriff für alles, was im Rest von Deutschland verpönt ist: verruchtes Leben, Prostituierte, Zuhälter, Drogen, kriminelle Machenschaften. Keine andere Gosse ist so faszinierend, keine andere Straße in Deutschland so oft in Fernsehfilmen dokumentiert oder in Liedern verewigt worden. Udo Lindenberg singt: "Reeperbahn, du geile Meile, du Gangsterbraut!" Weil es dort so wild zuging, musste jetzt sogar ein Waffenverbot verhängt werden, und die vielen Warnschilder mit durchgestrichener Pistole sehen genau wie die aus, die auch im Kongo überall hängen.
Die fast einen Kilometer lange Straße bietet viele Attraktionen: Sexshops, Laufhäuser, Puffs und Stripschuppen, dazu 99-Cent-Trinkbars und Absturzkneipen – eine Kombination, die naturgemäß viele Menschen anzieht, vor allem männliche. Und jeder, wirklich jeder Tourist lässt sich auch vor einer Kneipe namens "Ritze" ablichten, deren Eingang aus den gespreizten Beine einer Frau besteht.
Neben den Sauf- und Sexangeboten gibt es noch einige Theater und Kabaretts, Spielcasinos, Wurstbuden, Billigjeansläden und eine tolle Tankstelle, an der es jeden Abend so abgeht, dass die Tankstelle jetzt Türsteher hat. Alles, was man auf der Reeperbahn findet, ist schön schrabbelig und asozial.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Für die Hamburger aber stellt sich eine ganz andere Frage: Wie schafft man es, auf der Reeperbahn keinen Sex zu haben?")
Jeden Abend treffen sich auf der Reeperbahn viele unterschiedliche Charaktere: Albaner, die ein gutes Geschäft wittern, Jugendliche, die gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen, alte Männer mit Astra-Lächeln, die ordentlich einen wegstecken wollen, und Frauen, die aus den Augenwickeln die Prostituierten mustern und fragen: "Warum machen die das bloß?"
Dazu unzählige Jungessellenabschiede und Bundeswehr-Ausscheider, die an diesem Abend die besten Freunde der Welt sind. Und Paare, die nur ein bisschen über die Reeperbahn schlendern wollten, aber dann, zack, zieht der Mann die Frau doch in einen Sexshop rein.
Das mit den Prostituierten läuft auf der Reeperbahn so: Entweder sie sitzen in den Schaufenstern ihrer bunten Häuschen in der Herbertstraße, in der nur Männer erlaubt sind (Frauen, die sich da hineinwagen, bekommen schon mal einen Eimer Urin über den Kopf geschüttet). Oder sie stehen am Hans-Albers-Platz oder an der Davidstraße (nur auf der rechten Seite) vor dem McDonald’s, gegenüber der Davidwache, solariumgebräunt und mit dicken Plateau-Turnschuhen an den Füßen, und man fragt sich, ob die einen Sponsorvertrag mit der Firma Buffalo haben. Im Winter tragen sie alle – wie verabredet – einteilige Skianzüge, die sie aussehen lassen wie eine Super-G-Mannschaft.
Eine Konversation zwischen einer Prostituierten und einem potenziellen Freier läuft so ab: "Hey, du mit dem Käppi/der Hose/der Jacke, kommst du mit?" – "Nein, danke." – "Was spricht dagegen?" – "Muss nach Hause." – "Aber mit schön entspannten Eiern geht man doch viel besser nach Hause und die 30 Euro tun dir doch nicht weh." Wem jetzt kein gutes Gegenargument einfällt, der ist fällig. Man hört, dass das, was man letztlich für die 30 Euro bekommt, ordentliche Arbeit sein soll. Nicht richtig schön, aber auch nicht traumatisierend.
Sex kann man auf der Reeperbahn sehr einfach haben, in vielen Variationen, womit wir wieder bei dem Mann mit den Netzstrümpfen vom Anfang dieser Geschichte wären (der Transen-Strich befindet sich übrigens in der Schmuckstraße parallel zur Reeperbahn).
Für die Hamburger aber stellt sich eine ganz andere Frage: Wie schafft man es, auf der Reeperbahn keinen Sex zu haben? Gibt es einen Trick, damit die Damen einen in Ruhe lassen, wenn man nur eben mal so dahin will? Ein Freund aus Hamburg kennt einen: „Trage eine Penny-Markt-Tüte, dann lassen sie dich in Ruhe.“ Er wohnt seit vielen Jahren auf der Reeperbahn. Er muss es also wissen.