Es mag Männer geben, die einer Frau beim ersten Treffen ins Herz und in die Seele blicken können. Ich gehöre nicht dazu. Deshalb schaue ich einer Frau auf die Armbanduhr, die Schuhe, die Handtasche, meistens habe ich dann genug gesehen, meistens weiß ich dann, ob es sich lohnt, ihr in die Augen zu blicken. Manche meiner Freunde finden mich deshalb oberflächlich. »Man darf einen Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilen«, sagen sie. Ich finde diese Haltung sympathisch und absolut falsch.
»Surface is an illusion but so is depth«, hat der Maler David Hockney gesagt. Es ist nun mal so, dass ein Absatz, eine Gürtelschnalle oder das Modell des Mobiltelefons, ja sogar die Art, es aus der Tasche zu ziehen und zu bedienen, mindestens genauso viel über eine Frau aussagt wie das, was sie denkt, sagt, tut. Unser Wesen spiegelt sich in unserem Willen, uns auf eine bestimmte Art anzuziehen; es spiegelt sich sogar in unserem Willen, uns auf keine bestimmte Art anzuziehen: Mode ist ein präzises Kommunikationsmittel, oft genauer als Sprache, und ob zwei Menschen zueinander passen, darüber gibt ihr Äußeres verlässlicher Auskunft als jeder Fragebogen einer Internet-Partnerbörse. Deshalb chatten wir dort ja auch stundenlang mit Menschen, die wir im »echten« Leben nicht mal wahrnehmen würden.
Deshalb wirken die Menschen in der öffentlichen Sauna so seltsam fremdartig auf uns, weil wir zwar alles von ihnen sehen, aber das Entscheidende eben nicht: ihre Kleidung. Wir fühlen uns hilflos, weil wir unfähig sind, die vielen Nackten in unser persönliches kleines Menschen-Lexikon einzuordnen. Spätestens in der Umkleide ist man enttäuscht, wenn die Frau mit den schönen Brüsten in eine Cargo-Hose mit bierdeckelgroßer Gürtelschnalle steigt. Sag mir also, was du anhast, und ich sage dir, wie du bist, wie du lebst, was du magst und – ganz wichtig – ob du zu mir passt:
Neulich entdeckte ich auf einer Party eine Frau mit Ray-Ban-Fliegerbrille, Röhrenjeans und Männer-Unterhemd. Sie sah fantastisch aus, aber angesprochen habe ich sie nicht. Warum auch? Ich kannte sie doch schon: Wahrscheinlich ist sie Illustratorin oder Fotografin, fährt einen unordentlichen Kleinwagen (Peugeot oder Renault), geht am Wochenende gern lange frühstücken und hat mindestens einen Vitra-Stuhl zu Hause stehen. Sie trägt tagsüber Turnschuhe, abends Heels, mag Mode von Margiela, kann sich aber nur A.P.C. leisten, wahrscheinlich macht sie Yoga, ziemlich sicher kauft sie im Bioladen ein, nicht immer, aber regelmäßig.
Heute Morgen joggte ein blonde Frau mit tätowiertem Knöchel und atmungsaktiver Laufhose an mir vorbei. Ich war mir ganz sicher: Zu 85 Prozent arbeitet sie bei Pro7 oder studiert BWL. Wenn sie feiert, trinkt sie Cocktails, tanzt zu House-Musik und küsst Event-Manager. Sie trägt gern Dolce & Gabbana, nach dem Duschen cremt sie sich ein, und zwar grundsätzlich, Museen meidet sie, lieber geht sie Skifahren oder in den neuen Film von Til Schweiger, ihren Latte to go trinkt sie mit Strohhalm und so weiter. Eine Frau, die mit Wildlederschuhen und Jagdhund durch den Park schlendert, ist meistens nicht adelig, wäre es aber gern, Frauen mit Fleece-Pullover wandern tatsächlich gern, und Mädchen, die ihre Hüftjeans so tief tragen, dass das Höschen rausspitzt, sind meistens wahnsinnig in ihren 19-jährigen Freund verliebt und überhaupt keine Flittchen, auch wenn die 40-jährigen Männer das immer glauben.
Ich finde es praktisch, jede Frau auf Anhieb in eine Schublade zu stecken. Ich spare Zeit und behalte die Übersicht. Damit mir die Frau meines Lebens nicht entwischt, nur weil sie zufällig die falschen Turnschuhe trägt, lasse ich jede Schublade einen Spalt offen, jede soll die Chance haben, mich zu überraschen. Denn natürlich ist der Charakter eines Menschen viel wichtiger als seine Kleidung, aber eben erst später.
Illustration: Tina Berning