Im Rahmen der beliebten Serie Unterschätzte Lebewesen folgt heute ein Beitrag über Amöben und Schleimpilze, dies als Reaktion auf viele Leserbriefe aus den Räumen Käferstadt, Groß Bakterienrode sowie Sankt Erdreich, die in ungehaltenem Ton beklagen, nie sei bisher an dieser Stelle etwas über Amöben und Schleimpilze zu lesen gewesen.
»… entspricht es Ihrem auch ansonsten überheblichen Tonfall, dass Sie kein Wort über die Grundlagen des Lebens …«
»… all die Mühen und Plagen des Einzellerdaseins, die von Ihnen nie auch nur mit einer Silbe …«
»… dass nun auch Sie, wie so viele andere, die Kleinen und ganz Kleinen vergessen zu haben scheinen …«
»Ihre antiamöbische, ja, geradezu amöbophobe Grundhaltung empört mich …«
Die Amöbe. Debra Brock und ihre Leute von der Rice University in Houston/Texas konnten kürzlich nachweisen, dass Amöben, die zum Beispiel im Humus unter Laubbäumen leben, eine Art von Landwirtschaft zu betreiben in der Lage sind. Solche Amöben sondern, wenn sie Hunger haben, einen Botenstoff ab, der andere Amöben anlockt. Diese bewegen sich dann zu Zehntausenden dorthin, wo der Stoff am stärksten konzentriert ist. Dort schließen sie sich zu einem neuen, vielzelligen, beweglichen Organismus zusammen, der in nahrungsreichere Gebiete wandert.
Was essen Amöben? Die Antwort: Bakterien. Man hat in Houston Folgendes beobachtet: Setzt man die Einzeller in eine Petrischale mit Bakterien, dann fressen manche alle Bakterien auf einen Schlag, andere aber hören zu einem bestimmten Zeitpunkt auf. Sie bilden die erwähnte wandernde Großamöbe, schließen in einen bestimmten Teil von deren Körper einige Bakterien lebend ein, machen sich auf den Weg und säen diese anderswo aus – wo sich die Bakterien dann vermehren, um von den Amöben geerntet zu werden. Das kann man Landwirtschaft nennen; der Bauer macht’s nicht anders, er sammelt Saatgut, sät aus, erntet Früchte.
Hand aufs Herz: Wer hätte Amöben das zugetraut? Und wer hätte sich je vorgestellt, wozu der gelbliche Schleimpilz Physarum polycephalum, auch er den Amöben zugehörig, in der Lage ist: Er kann, so fand Atsushi Tero von der Hokkaido-Universität in Japan heraus, das Tokioter U-Bahn-Netz nachbauen, obwohl er weder Augen noch irgendwelche anderen Sinnesorgane besitzt.
Atsushi Tero und seine Leute bildeten mit Hilfe von Haferflocken das System von Ortschaften im Großraum Tokio nach: pro Ort eine Flocke, in der Mitte eine Riesenhaferflocke, darauf sitzend Physarum polycephalum. Schnell wucherte der gelbliche Glibber, bildete Schleimspuren zu den anderen Flocken, so das U-Bahn-Wegenetz nachbauend. Und noch etwas: Setzte man diesen Pilz in die Mitte eines Labyrinths, wucherte er sofort alle Gänge zu. Platzierte man aber an Ein- und Ausgang des Irrgartens je eine Haferflocke, fand der Schleim sofort den kürzesten Weg zwischen den Pforten – unglaublich, aber wahr!
Ich stelle fest, erstens: Schleimpilze sind, zumindest was den Orientierungssinn angeht, Menschen deutlich überlegen. Keiner von uns würde mit Hilfe von zwei Haferflocken den Ausgang aus einem Labyrinth, egal welcher Dimension, finden – geschweige denn den Netzplan der U-Bahn in Tokio verstehen.
Zweitens: Wenn wir in der Lage sind, Experimente mit Amöben zu machen, wer sagt uns dann, dass es nicht eine Ebene über uns, unserer Vernunft und Emotion nicht zugänglich, Wesen gibt, die Experimente mit uns veranstalten, Wesen, für die wir primitiv anmutende Schleimpilze sind? Könnte es sein, dass die ganze Erde eine riesige Petrischale ist, über deren Rand wir nicht hinauszublicken in der Lage sind? Dass zum Beispiel die U-Bahn in Tokio die Versuchsanordnung einer superintelligenten Monsteramöbe ist, um irgendetwas über uns festzustellen, das dieses Amöbenmonster
interessiert?
Ist es drittens möglich, dass Amöben Leserbriefe schreiben?
Illustration: Dirk Schmidt