Bis in den vergangenen März hinein vertrat ich die These, das Wetter in Süddeutschland werde im Wesentlichen für mich gemacht – oder besser: gegen mich. Es war ja seit Jahrzehnten deutlich zu beobachten, dass stabile Schönwetterperioden in Zeiten lagen, in denen ich viel zu tun hatte, dass es kurze, aber dramatische Kälteeinbrüche besonders in der Zeit von Freitagnachmittag bis Sonntagabend gab, und dass meine Urlaubsregionen häufig von katastrophal dauerhaften Regenfällen, wenn nicht gleich endgültigen Herbsteinbrüchen heimgesucht wurden. Was das Wetter anging, war Hiob mein zweiter Vorname.
Und übrigens keimte in mir auch der Verdacht, die Elektroindustrie verfolge mich mit systematischer Heimtücke, sie statte von mir erworbene Geräte mit speziell angefertigten und komplett unverständlichen Gebrauchsanleitungen aus, lasse an mich Mobiltelefone mit besonders kurzer Lebensdauer ausliefern und stelle mir Staubsauger mit extrageringer Haltbarkeit zur Verfügung.
So sah ich das Leben.
Im Lexikon las ich dann, dass Menschen besonders anfällig für Verschwörungstheorien seien, die eine niedrige Selbstwirksamkeitserwartung hätten. Was ist das: ein Mensch mit niedriger Selbstwirksamkeitserwartung? Es handelt sich um eine Person, die keine Kontrolle über ihr Leben zu haben glaubt, der es an Sicherheit und Lebensvertrauen fehlt, die sich bedroht wähnt und das Gefühl hat, sie könne ihr Dasein nicht ausreichend beeinflussen.
Solche Leute suchen Halt im Chaos, sie konstruieren Strukturen, mit deren Hilfe sie das Leben zu verstehen glauben. Sie glauben, dass Osama bin Laden nicht tot ist, sondern von dem auf ihn ausgesetzten Kopfgeld lebt, weil er schon immer CIA-Agent war. Sie sind der Meinung, dass Real Madrid nicht die Champions League gewinnt, weil dessen Trainer Mourinho vom europäischen Fußballverband konsequent benachteiligt und verfolgt wird; insbesondere Mourinho selbst findet das. Sie vertreten die Ansicht, dass es die Stadt Bielefeld nicht gibt, sondern dass Bielefeld von Leuten erfunden wurde, die ein Interesse an der Existenz Bielefelds haben und sich daran bereichern. Sie sind sicher, dass alle Politiker Betrüger sind, dass die Mondlandung nie stattfand, sondern in einem Fernsehstudio den Menschen vorgespielt wurde, und dass die Industrie schon seit Jahrzehnten in der Lage wäre, unzerstörbare Nylonstrümpfe zu produzieren, dies aber nicht tut, sondern weiter laufmaschenträchtige Produkte in den Handel bringt, weil sie ja nicht so blöd ist, sich ihr eigenes Geschäft kaputt zu machen.
Was lernen wir daraus? Wir lernen, dass der Mensch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit braucht, weil seine Fantasie (die grundsätzlich eine schöne Sache ist, solange man sie als Fantasie erkennt) sonst durchdreht. Er muss irgendwie im Gefühl leben, seine
Existenz halbwegs im Griff zu haben und den Überblick zu behalten. Bloß: Wird das nicht immer schwieriger, je größer die Konzerne werden, deren Produkte wir kaufen, je unverständlicher das Innenleben der Geräte ist, die wir bedienen, je undurchsichtiger und umfangreicher die politischen Systeme sind, die uns regieren? Wahrscheinlich leben wir also in Zeiten, die ideal sind für Verschwörungstheorien aller Art, nicht wahr?
Andererseits ist es doch gut, dass es Menschen wie mich gibt, die das alles gut erklären können, die den vollen Durchblick haben, die tatkräftig und froh im Leben voranschreiten, und deren Leben sich dahingehend geändert hat, dass sie in diesem April und Mai vom ersten bis zum letzten Tag herrliches Wetter in den Ferien hatten, dass sie klar und deutlich die Gebrauchsanleitung für ihr neues Diktiergerät verstanden haben und ein Mobiltelefon besitzen, das nun schon seit einer Weile klaglos funktioniert, sodass ich abschließend die These vertreten möchte, dass der Menschheit und insbesondere mir selbst, meiner emotionalen Verfassung, meinem Selbstbewusstsein und auch dem Gefühl meiner Selbstwirksamkeit mit einer Reihe weiterer schöner Frühlinge sowie stabiler Sommerwetterlagen in den kommenden Jahren auch schon sehr gedient wäre.
Illustration: Dirk Schmidt