Der Beruf des Stinkwanzenexperten hat kein großes Renommee, und man tut als solcher gut daran, nicht auf jeder Party den schönsten Frauen die tägliche Arbeit zu erklären. Nur selten hört man von Jugendlichen, sie würden gern »was mit Stinkwanzen« machen. Im Grunde kommt der Stinkwanzenexperte auf der Rangliste gesellschaftlich angesehener Berufe gleich nach dem Klärschlammhygieniker, dem Müllverrottungsinspektor und dem Reizdarmentlüfter, aber das ist ungerecht gegenüber allen Betroffenen, am wenigsten allerdings gegenüber den Stinkwanzen, deren Existenznotwendigkeit in weiten Kreisen ebenso wie die der Nacktschnecken mit Recht bezweifelt wird.
Aber was soll man machen? Wenn der Herrgott sich nun mal für die Stinkwanze entschieden hat, benötigen wir Stinkwanzenexperten. Vielleicht wäre das ein literarisches Thema: der Traum des Wanzenfachmanns von Ruhm, Liebe, Anerkennung, wie Patrick Süskind in Der Kontrabass Sehnsüchte, Irrungen und Verklemmungen eines Kontrabassisten beschrieben hat, die auch Sehnsüchte, Irrungen und Verklemmungen vieler Nichtkontrabassisten sind – sonst wäre das Stück nicht so erfolgreich.
Nun gibt es aber Tracy Leskey, Insektenkundlerin in Kearneysville/West Virginia, und es gibt an der amerikanischen Atlantikküste wie schon vergangenes Jahr wieder eine Invasion der Marmorierten Baumwanze, einer Stinkwanze, die bei Gefahr durchdringenden Schweißfußgeruch absondert. Die Tiere suchen zu Zehntausenden Wohnungen heim, saugen Saft aus Feld- und Baumfrüchten, krabbeln über Lampen und Fernseher, sitzen auf Fenstern. Sie sind eklig, wenn sie leben, und schlägt man sie tot – also, man sollte sie nicht totschlagen, es sei denn, man möchte wirklich wissen, warum sie Stinkwanzen heißen.
Und Tracy Leskey, die bisher weitab der Öffentlichkeit entomologischen Studien nachging, ist plötzlich eine gefragte Frau, hält Vorträge, zeigt Bilder der Außenwand eines Bankgebäudes, an dem Millionen Stinkwanzen hängen, überlegt, was die Tiere dorthin gelockt haben könnte (Geldgier? Bankenhass?), denn wüsste man es, man wäre weiter im Wanzenkampf. Tracy Leskey erklärt, was man gegen Wanzen tut, gibt Menschen Hoffnung, lässt sie nicht allein in apokalyptischen Wanzenmassen – und zeigt erstens, dass wir Experten für alles benötigen, und zweitens, dass jeder von uns auch mit den abwegigsten Interessen und periphersten Berufen eines Tages ins Licht gerufen werden kann, weil man ihn plötzlich sehr dringend braucht.
Lee Charm zum Beispiel wurde in Bad Kreuznach als Bernhard Quandt geboren, aber benötigt wurde er in Südkorea. Schon 1978, mit 24, wanderte er aus, wurde acht Jahre darauf als erster Deutscher südkoreanischer Staatsbürger, änderte den Namen, ist heute Präsident der Nationalen Tourismusbehörde und hatte als solcher seinen Anteil daran, dass nicht München, sondern Pyeongchang die Winterspiele 2018 bekam.
Nun lese ich, Charm habe die Landsleute aufgefordert, weniger zu arbeiten. Anders als der Deutsche kennt der Südkoreaner Urlaub kaum, er nimmt elf Tage im Jahr frei, auch die nicht am Stück, und ist verfolgt von Angst, danach am Arbeitsplatz einen anderen Südkoreaner vorzufinden.
Lee Charm sagt, Grundlage moderner Volkswirtschaften sei nicht nur der Fleiß, es seien Kreativität und Innovation, der Mensch aber brauche, um krea- und innovativ zu sein, Erholung. Er erklärt den Südkoreanern, ein Urlaub mache dem Menschen dreimal Freude, einmal bei der Planung, ein zweites Mal im Urlaub selbst und ein drittes Mal in der Erinnerung. Lee Charm ist nicht nur Tourismuspräsident, sondern auch eine Art Freizeitbeauftragter Südkoreas.
Ein weiteres Mal erkennen wir: Jeder kann jederzeit irgendwo benötigt werden. Jeden Deutschen kann der Ruf ereilen, irgendwo das Prinzip der Erholung und des Ausruhens engagiert zu vertreten, wie es so viele von uns in diesem Sommer wieder weltweit tun. Liegt nicht überhaupt hier die Zukunft ganz Deutschlands, unser alle Aufgabe: als Weltfreizeitbeauftragte? Und sei es auf Mauritius, und sei es auf den Malediven?
Illustration: Dirk Schmidt