Der Mensch wird klein geboren, er wächst heran, entwickelt seine Talente, lernt Autofahren und ein Smartphone zu bedienen, beherrscht irgendwann die Mülltrennung genauso wie das Online-Banking. Er häuft in seinen Schädelkammern Wissen allergrößten Umfanges an, wird vielleicht ein weltweit gesuchter Spezialist für die Kultur des späten Achämenidenreiches oder löst endlich das Problem der parallelpythagoreischen Quantensubtraktion, auch spricht er womöglich flüssig fünf Weltsprachen nebst ihren wesentlichen Dialekten. Dann stirbt er. Was für eine Verschwendung! Welche Vergeudung!
Aber das ist nicht alles. Dieses Menschenschicksal, sich nämlich zu einem nutzlosen Finale hin zu entwickeln, findet seine schreckliche Zuspitzung im Leben des Politikers. Was dem normalen Bürger erst im Tode widerfährt, muss der Abgeordnete, Minister oder Bürgermeister bei vollem Bewusstsein erleben. Er lernt die Kunst der öffentlichen Rede und das Anquatschen gemeiner Männer und Frauen in Fußgängerzonen, er knüpft Kontakte wie der Fischer sein Netz, umschmeichelt das Volk, erspürt dessen Verlangen, kennt die Vergütungsausschüttungsproblematik im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ebenso aus dem Effeff wie die Inhalte der Schlussakte von Marrakesch, den multilateralen Welthandel betreffend. Und wird eines Tages nicht mehr gewählt.
Lebendigen Leibes muss er zusehen, wie seine politischen Gegner – unfähige Nichtsnutze einer wie der andere – das doch ihm zugedachte Werk verrichten, ja, er muss sich noch schlimme Worte anhören, stellt er sich in den Dienst bedeutender auswärtiger Erdgaspumpwerke, damit seine Fähigkeiten wenigstens nicht bei Gartenarbeit und auf Spaziergängen mit den Kindern verkommen. Oder er lernt eine junge schöne Frau kennen, möchte auch mal Zeit mit ihr (und nicht immer nur mit der Kanzlerin) verbringen, will also bei kürzerer Arbeitszeit mehr Geld verdienen und strebt deshalb logischerweise einen Posten bei der Bahn an – doch man gönnt es ihm nicht.
Dies ist so im Grunde keinem Fühlenden erträglich. Was ist zu tun? Ließe sich nicht ein System schaffen, von dem wir alle profitierten: in dem also der Ex-Politiker endlich ein menschenwürdiges und seinen Fähigkeiten entsprechend gut bezahltes Leben führen könnte? In dem seine Leidenschaften (die öffentliche Rede, das Menschenfischen, das Knüpfen von Netzwerken, das zügige Lösen von Problemen) vielleicht zu einer späten Blüte kämen?
Kürzlich sah ich zum wiederholten Male die Sendung The Voice of Germany: Begabte junge Musiker präsentieren sich in einer Reihe von Wettbewerben einer Jury und dem Publikum. Sehr unterhaltsam, sehr viel Qualität. Warum veranstaltet niemand so etwas mit abgewählten oder zurückgetretenen Politikern? Schröder, Pofalla, Westerwelle, Onkel Brüderle, warum nicht sogar der Vetter Gutti aus Amerika? Alle stellen sich einer Reihe von Aufgaben: Halte aus dem Stand eine Rede zu einem von der Jury gestellten Thema! Löse innerhalb einer Stunde ein vom Publikum vorgegebenes Weltproblem so gut wie möglich! Und: Wer überzeugt in kürzester Zeit in der Wattenscheider Fußgängerzone die meisten Menschen von seiner Ansicht? Wer kriegt am schnellsten den amerikanischen Präsidenten ans Telefon? Wer schneidet am besten ab in einem Quiz über Detailfragen politischer Bildung?
Samstagabend. Große Show. Live-Vorstellungen in allen großen Stadthallen. Schöne Gagen für alle, gratis dazu: das Gefühl, gebraucht zu werden, nicht zu rosten. Und wir in den Wohnzimmern könnten so viel lernen: wie man gute Reden hält, wie man Menschen überzeugt, wie das politische Handwerk funktioniert. Gelebte Staatsbürgerkunde. Die Jury, herrlich zurückgelehnt in roten Drehsesseln: Clinton, Gorbatschow, Old Münte, in ein paar Jahren vielleicht Wulff, natürlich eine Rauchwolke namens Schmidt. The Choice of Germany, wann?
Illustration: Dirk Schmidt