Das Beste aus meinem Leben

Eine Woche lang waren wir in einem kleinen Hotel am Lago Maggiore, direkt am See. Und weil es morgens und abends kühl war, aß man in diesem Hotel nicht auf der Terrasse, also draußen, sondern in einem Speisesaal.Sehr lange habe ich schon nicht mehr täglich in einem Speisesaal gegessen, zuletzt war das im Jugendlager, glaube ich, nein, natürlich nicht, es war bei der Bundeswehr. Wenn ich an den Bundeswehr-Speisesaal denke, fällt mir der Satz ein: »Je schlechter das Essen, desto besser die Armee.« Ich glaube, wir waren damals einerseits eine der besten Armeen der Welt, andererseits hat das ja niemand ausprobiert, Gott sei Dank. So viel zum Thema »Speisesäle« im Allgemeinen, nein, noch etwas: Ich habe es gern, in solchen Räumlichkeiten irgendwo am Rand zu sitzen, in einer Ecke, wo man nicht auf mich achtet. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt, ob Sie es glauben oder nicht.In diesem Saal bekamen wir nun aber einen Tisch mitten im Saal. Und wir waren die einzigen Gäste mit Kindern. Die anderen Gäste waren Schweizer, Italiener, sehr wenige Deutsche.Direkt neben uns saß eine Schweizerin im mittleren Alter mit traurigen Augen. Am ersten Tag war noch ihr Ehemann dabei gewesen, er hatte sich dann verabschiedet, nun war sie allein. Sie sagte, sie sei gekommen, um hier ein wenig zu wandern, sich auszuruhen und zu »kontemplieren«, wie sie sich ausdrückte.Damit wurde es nun allerdings ein bisschen schwierig, mit dem Kontemplieren, meine ich, jedenfalls hier im Speisesaal.Und das lag an Sophie.Die Sophie hat nämlich einen irgendwie besonderen Schrei entwickelt, mit dem sie nicht etwa Ärger, sondern vielmehr ihre Freude am Leben ausdrückt. Sie schreit »Aaaaa-ha!« und meint damit die allerverschiedensten Dinge: Dies ist aber ein sehr schöner Teddybär, den ihr mir gerade zeigt! Ach, was für ein hochinteressantes Bilderbuch! Hey, ich liebe diese Holzrassel, Leute! Bei Gott, das ist wirklich ein affenscharfer Plüschwürfel, den ich gerade in meinen Brei getaucht habe! Und dieser Brei übrigens, meine Damen und Herren, es ist der beste Brei, den ich bisher in der Gegend herumspritzen durfte!So geht das. Und der Schrei füllt einen ganzen Speisesaal, mühelos. Da fällt das Kontemplieren nicht immer leicht.Was mich angeht, ist es so: Einerseits freue ich mich über meine kleine Tochter, wenn sie vor Freude schreit. Andererseits ist es mir, jedenfalls in einem fremden Speisesaal, sehr unangenehm. Alle Blicke richten sich auf einmal auf mich. Alle Blicke sagen: Warum bringt denn diese Familie ein so lautes kleines Kind hierher? Sind das diese Menschen, von denen man in den Zeitschriften neuerdings liest, dass sie ihre Kinder nicht mehr anständig zu erziehen fähig sind? Ein Fall für die Super-Nanny, was? Und warum hat der Vater dieses Kindes so seltsame Pusteln im Gesicht? Ach, das ist der Dinkelbrei des Kindes, den es soeben mit einem Löffelschlag auf Vaters Gesicht verteilt hat? Was für eine lächerliche Figur, dieser so genannte, ähm… Vater, was? Tja.Und du sitzt da und bist hin- und hergerissen in Gedanken: Sollte ich mit meinem Kind wirklich solche Speisesäle aufsuchen? Aber liegt nicht das wahre Problem darin, dass die Leute hier in diesen sterbenden europäischen Gesellschaften keine Kinder mehr gewöhnt sind? Gut, Mann, aber irgendwo müssen sie doch auch mal ihre Ruhe haben dürfen, die Leute, oder? Aber wir haben doch auch bezahlt, wir auch!»Mach dir nicht so viele Gedanken«, sagt Paola, »was andere Leute über dich denken.«»Ich kann doch nichts dafür.« Am dritten Tag unseres Aufenthaltes hatte die Kontempliererin aus der Schweiz einen Tisch am Ende des Saales. An ihrem Tisch saß nun ein dicklicher 60-jähriger Italiener mit seiner jungen Geliebten. Am nächsten Tag saßen diese beiden am anderen Ende des Saales. Am Tag darauf waren alle Tische um uns herum von einer 30-köpfigen Wandergruppe besetzt, die auf den Tischkarten wirklich und wahrhaftig als »Grupo Bosch« firmierte – alles Schweizer Rentner mit stämmigen Beinen, die lauthals ihre Wandererlebnisse austauschten.Ein Schrei von Sophie!Bleierne Stille senkte sich über »Grupo Bosch«. Dreißig Augenpaare musterten mich. Ich wischte mir etwas Gemüsebrei aus dem Vorteilsglas von der Wange und lernte das Muster der Tischdecke auswendig.Nach einer Woche fuhren wir dann wieder heim. »Ich werde an mir arbeiten!«, dachte ich. »Bald wird es mir nichts mehr ausmachen, dass Leute mich anstarren, wenn meine Tochter vor Freude schreit, irgendwann werde ich so weit sein, und wenn sie 17 wird oder 18, bis ich es schaffe – ich schaffe es.«