Das Beste aus meinem Leben

Unter meinen Freunden ist auch der Fred, der ein Genießer ist und Freund des angenehmen Lebens. Ist man zum Beispiel im Winter beim Skifahren und hat sich eine Hütte zur Mittagsrast ausgesucht, sitzt also dort im Sonnenschein auf der Terrasse, und der Fred erscheint plötzlich – dann darf man sicher sein, an diesem Tag alles richtig gemacht zu haben, denn einen schöneren Mittagsplatz gibt es in den ganzen Alpen nicht. (Gäbe es ihn, der Fred wäre dort und nicht hier.)Oder man fährt sommers aufs Land, sitzt in einer Wirtschaft, versteckt in einem Dorf, trinkt ein dunkles Bier und nimmt einen Wurstsalat zu sich – da knirscht Freds Fuß auf dem Kies und der ganze Mann selbst erscheint unter den Kastanien. Man erhebe und gratuliere sich! Weil: Schöner könnte man es an diesem Tag in Bayern nicht treffen, der Fred ist gleichsam ein Lebensqualitäts-Indikator, immer sucht er nach dem passendsten, charmantesten, gemütlichsten Ort. Und immer findet er ihn.Dennoch ist der Fred ein Melancholiker. Was immer er tut, woran er sich auch gerade erfreut, was immer seine Seele erhebt – nie lässt ihn der Gedanke los, es fehle noch eine Klitzekleinigkeit: Der Schaum des Bieres hätte eine Minute länger halten können, die Tiefschnee-Variante am Silberkogel wäre vielleicht etwas weniger verspurt gewesen als jene, die wir gerade fahren, und ist es nicht ein bisschen schade, dass wir gestern bei dem herrlichen Wetter nicht zum »Tambosi« am Odeonsplatz gegangen sind, des Blicks auf die Theatinerkirche wegen? (Obwohl es bei den Freunden auf der Dachterrasse am St.-Anna-Platz auch schön war!)Der Fred hat einen Wahlspruch, der lautet: »Es gibt nix ganz Schönes.« Immer ist für ihn ein kleiner Webfehler im Glück. Immer wird er auf der Suche nach dem perfekten Augenblick sein. Das ist ein bisschen traurig. Andererseits: Es ist nicht so, dass es den Fred deprimiert. Er neigt nur nicht zum Jubilieren. Er verdrängt auch in den schönsten Augenblicken nicht die Mangelhaftigkeit des Lebens. Und wo wären wir ohne den Fred und seine Suche nach Vollkommenheit?! Viel zu oft am falschen Ort. Viel zu früh zufrieden.An den Fred musste ich denken, als ich neulich im ICE von irgendwoher zurück nach München fuhr. Kurz vor der Stadt erhob sich die Stimme des Zugchefs aus dem Lautsprecher und verkündete, hier sei Schluss mit diesem Zug, »wir verabschieden uns ganz herzlich von Ihnen und wünschen Ihnen noch einen wunderschönen Tag.«Ganz herzlich. Wunderschön. Drunter macht es heute niemand mehr. Chefredakteure gro-ßer Magazine unterzeichnen Editorials mit: »Herzlichst Ihr …« In einem Buchladen fand ich einen Stapel signierter Ware eines Sachbuchautors, der seine Werke ebenfalls mit »Herzlichst …« gezeichnet hatte. Obwohl ja die Signateure in beiden Fällen damit rechnen müssen, dass vor ihren Werken abstoßende Idioten sitzen, die kein Wort verstehen und nach jedem Satz rülpsen. Auch diesen Menschen hätte ihr »Herzlichst« gegolten.Es ist ein Zeichen der Zeit. Wir leben nur noch im Superlativ. Du stehst im Café am Tresen, neben dir bestellt jemand einen Orangensaft. »Habt ihr auch frisch Gepressten?«, fragt er.»Klar.«»Geil. Super.«So geht das den ganzen Tag. Nichts ist einfach gut, alles ist super. Nichts ist schön, alles wunderschön. Niemand grüßt mehr freundlich, alle herzlichst. Jeder Olli, jeder Bohlen: ein Titan! Wissen die Leute eigentlich, dass der Titan Kronos seine Kinder verschlang und später in den Tartaros verbannt wurde, wo er wahrscheinlich heute noch zusammen mit seinesgleichen schmachtet, bewacht von drei hundertarmigen Riesen namens Briareos, Gyes und Kottos? (Im Falle Olli Kahn könnte ja noch ein vierter Hundertarmiger namens Lehmannis dazu kommen, was?)Wer weiß so was noch?, würde Fred seufzen.Freds Haltung: Unter diesen Bedingungen ist sie ein Mittel gegen die Hysterie der Welt. (Blöderweise heißt diese Kolumne »Das Beste aus meinem Leben«. Man sollte sie »Das halbwegs Erträgliche aus meinem Leben« nennen.)Schönen Tag noch.