Notizen aus Venedig (I): Wir fuhren für vier Tage nach Venedig. Ich bin oft dort gewesen, noch nie aber hatte ich in dem kleinen Hotel gewohnt, in dem Paola nun ein Zimmer für uns reserviert hatte.Dieses Hotel galt lange unter Kennern als Geheimtipp. Es befindet sich nur wenige Meter vom weltberühmten »Danieli« entfernt. Indes kosten seine Zimmer nur einen Bruchteil der Danieli-Preise – aber man hat aus den Fenstern den gleichen unvergesslichen, unvergleichlichen Blick: rechts die mächtige Kuppel von Santa Maria della Salute und die Einfahrt in den Canal Grande, dann die lange Uferlinie der Giudecca mit San Giorgio Maggiore gleich gegenüber. Links die Weite des Wassers mit dem Lido im Lagunenlicht.Natürlich sind die Zimmer bescheiden. Ordentlich, sauber, sogar geräumig, aber eben bescheiden. Altmodisch alles. Unten an der Rezeption notieren Angehörige der Hoteliersfamilie, fast durchweg beleibte und immer freundliche Menschen, nach wie vor jede Reservierung in einem dicken Buch. Nirgends ein Computer.Aber der Luis hatte sich alles anders vorgestellt. Ich weiß nicht, hatte er Schilderungen seines Freundes Rudi im Kopf, der ihm von Ferien in einem sehr schönen Hotel mit Pool und Frühstücksbuffet erzählt hatte? Oder hatten wir auf der Fahrt durch den Canal zu eindringlich von den Hotels geschwärmt, an denen wir vorbeigefahren waren, dem »Gritti«, dem »Grand Canal«, dem »Bauer Grünwald«, schließlich dem »Danieli«? Jedenfalls vereiste seine Miene, als wir unser Zimmer betraten, und er sagte, hier wohne er nicht, nie im Leben verbringe er vier Nächte an dieser Stelle.»Aber dieser Blick, Luis, der Blick!«, sagte Paola, die Fenster öffnend.Er würdigte die Lagune keines Blickes.»Wo ist die Minibar?«, fragte er.»Woher weißt du was von Minibars?«, fragte ich.»In Rudis Hotel gibt es eine Minibar.«»Wir sind in Venedig, der schönsten Stadt der Welt«, ächzte Paola, »und du sprichst von Minibars…«Wir verließen das Hotel, um etwas zu essen. Den ganzen Abend hörte Luis nicht auf, vom Hotel zu reden. Bei jeder Herberge, an der wir vorbeikamen, mussten wir uns nach Zimmerpreisen erkundigen und einen Prospekt mitnehmen. In einem frisch eröffneten Hotel besichtigten wir sogar die Räume. Man ging von einer opulent gestalteten Rezeption durch einen kahlen Nebengang zum Lift. Fuhr in einen düsteren Flur, wo sich Zimmer befanden, wie man sie überall auf der Welt findet, nur nicht immer mit Blick auf einen schmalen, stinkenden Kanal.»Unten hui, oben pfui«, sagte Paola. »Denk an den herrlichen Blick von unserem Zimmer aus!«»Wenn du einen Blick willst, gebe ich dir einen Blick!«, schrie Luis. Er bot an, sein Sparkonto aufzulösen, damit wir im »Danieli« wohnen könnten.Paola umarmte ihn. »Mein großzügiger Prinz!«, rief sie.»Das Sparbuch würde eine Nacht reichen«, sagte ich.Wir erkundigten uns auch im »Danieli« nach den Preisen. Ein Rezeptionist gab in stählerner Freundlichkeit Auskunft.»Kommt nie in Frage, Luis!«, murmelte ich auf dem Weg zum Ausgang.Er hielt sich die Augen zu. »Ich kann nicht hinsehen… schmacht… schmacht…«, sagte er, während ich ihn durch die Lobby führte.Wir begaben uns zurück in unser Hotel und legten uns schlafen. In der Nacht wachten Paola und ich auf, horchten auf das Brummen der Bootsmotoren, das Klatschen der Wellen, das Quietschen der hölzernen Anlegepfähle, Schritte, Stimmen, Möwenschreie. Lehnten uns aus dem offenen Fenster und blickten auf den Schatten des eingerüsteten Turms von San Giorgio, die lange Lichterkette am Kai der Giudecca mit der Redentore-Kirche in der Mitte. Sie wurde hell angestrahlt und sah aus der Distanz in feuchter Luft aus, als befinde sie sich in einer Rauchwolke. Weit weg von der Welt waren wir, in einer anderen Art von Wirklichkeit. Venedig.Als wir aufwachten, stand Luis schon am Fenster und warf zum ersten Mal einen Blick hinaus.»Ist ja toll hier!«, sagte er. »So’n schöner Blick.«