Das Beste aus meinem Leben

Das Bücherregal muss aufgeräumt werden, die Bücher quellen geradezu heraus, sie stehen in zwei Reihen hintereinander, und oben auf den Reihen liegen auch noch Bücher – es geht ja so nicht weiter.Das Regal ist sechs Meter lang und drei Meter hoch. Paola gehört die rechte Hälfte, mir die linke. Wir holen die Leiter aus dem Keller und Umzugskartons dazu. Ich habe meine Bücher alphabetisch geordnet, Paola auch.Ich steige auf die Leiter. Sehe mir die Bücher unter A an. Anderson, Sherwood: Winesburg, Ohio.»Hast du das mal gelesen?«, frage ich Paola.»Ja, lange her, sehr schön«, sagt sie.»Ich bin mal zufällig zu dem Buch gekommen«, sage ich. »Weiß gar nicht mehr, wie. Seltsam, weil es ja ein bedeutendes Buch in der amerikanischen Literatur ist.« Ich lese, blättere und entdecke hinten Andersons Lebenslauf.»Weißt du, wie der gestorben ist?«, frage ich.»Nein.«»1941. Er unternahm mit seiner Frau eine Schiffsreise nach Südamerika. Beim Abschied in New York verschluckte er ein Stück des Hölzchens, mit dem die Olive in seinem Martini durchstochen war. Dann starb er in Panama an Peritonitis. Was ist das, Peritonitis?« Ich ziehe den Gesundheits-Brockhaus hervor und schlage nach: Bauchfellentzündung. Ich ächze leise. Nehme mir den nächsten Autor vor.Allen, Woody. Die frühen Satiren. »Ich muss dir schnell diesen Text über die Erfindung des Sandwichs durch den Grafen von Sandwich vorlesen«, sage ich. »Wahnsinnig witzig.« Ich suche den Text, finde ihn aber nicht. Paola seufzt.Sie hält ein dünnes Buch in der Hand. Alfred Anderschs Die Rote. »Das hat mir mein erster Freund geschenkt, ich war so verliebt. Er hat mir immer Bücher geschenkt und konnte sehr schön erklären, warum er mir die Bücher schenkte, und dafür habe ich ihn sehr geliebt.«Sie vertieft sich in Anderschs Buch. Im Leben habe ich noch nichts von Andersch gelesen. Ich schnappe mir unauffällig Kindlers Literatur Lexikon und schlage unter »Andersch« nach. Der Autor habe, steht da, mit Die Rote die Erfolge von Die Kirschen der Freiheit und Sansibar oder der letzte Grund nicht wiederholen können. »Der nüchterne Realismus und der ungespreizte gedankliche Ernst, die den vorangegangenen Büchern ihren Rang gesichert hatten, weichen in Die Rote einer manierierten, bisweilen sogar kitschigen Sprache, die nicht frei ist von trivialen Klischees und einer Handlung, die nicht weit von Kolportage- und billiger Unterhaltungsliteratur entfernt ist.« Ich lege das Lexikon beiseite.»Ich weiß nicht«, sage ich. »Die Rote ist sein schwächstes Buch, manieriert, fast kitschig. Erinnere dich an Die Kirschen der Freiheit! Wie ernst, nüchtern, ungespreizt realistisch er geschrieben hat! Oder Sansibar oder der letzte Grund. Da war er gut. Die Rote ist Kolportage.«Sie blickt auf. »Ich war 18«, sagt sie, legt Andersch beiseite und greift nach Paul Austers New York-Trilogie.»Harummm...«, mache ich und suche wieder nach Woody Allens Sandwich-Text. Jedes Mal, wenn ich den Text suche, vergesse ich, dass er unter einer irgendwie irreführenden Überschrift steht, die ich aber auch vergessen habe. Schließlich finde ich ihn unter der Zeile Ja, aber kriegt die Dampfmaschine das denn fertig? Allen schildert das aufreibende Leben des Grafen von Sandwich, der verzweifelt an der Erfindung des Sandwichs arbeitet: Einmal legt er zwei Scheiben Brot aufeinander und darauf eine Scheibe kalte Pute; dann türmt er drei Scheiben Schinken übereinander; schließlich legt er drei Scheiben Brot zusammen – bis er endlich mehrere Schinkenstreifen mit zwei Scheiben Roggenbrot umschließt. Der Durchbruch.Wir lachen.»Warum ist es so schwer, Bücher wegzuwerfen?«, sage ich. »Nichts ist schwerer wegzuwerfen als ein Buch.«»Weil die meisten Bücher mit deinem Leben verknüpft sind. Mit irgendeinem Gefühl. Das Buch und dein Leben haben sich eine Weile lang gegenseitig durchdrungen.« Ich bin jetzt auch bei Paul Auster. Seltsam, dass ich Smoke so gut finde, den Film, den er mit Wayne Wang gemacht hat, aber dass ich von seinen Romanen nie einen zu Ende gelesen habe. Neuer Versuch! Ich beginne auf der Stelle, in Mond über Manhattan zu lesen.Abends haben wir alle Bücher mit Autoren-Namen unter A durchgesehen. Leider können wir uns nicht entschließen, auch nur eines wegzuwerfen. Aber bei B soll es einige unbedeutende Autoren geben, von deren Werken man sich leicht trennen kann. Oder bei C? Jedenfalls brauchen wir noch ein paar Wochen für das Regal.