Leserin G. schreibt dem Wortstoffhof, sie habe mit Staunen im Newsletter der Münchner SPD-Bundestagsabgeordneten Claudia Tausend und Florian Post gelesen, dass die Koalition sich »auf die zentralen Eckpunkte unserer weiteren Energiepolitik geeinigt« habe. Sie verstehe das so, schreibt G., »dass nur durch kühnes Überspringen der Denkhindernisse, die uns die Geometrie in den Weg gelegt hat, eine Einigung mit der CSU möglich wurde«. In der Tat scheint dem Eckpunkt zunächst einmal nichts fremder zu sein als das Zentrale. Wenn wir zum Beispiel für einen Augenblick die Große Koalition als ein wie auch immer geartetes Dreieck aus CDU, CSU und SPD verstehen wollen, so hat dieses drei Eckpunkte, die genannten Parteien nämlich. Wollte man nun diese Eckpunkte ins Zentrum rücken, also zu zentralen Eckpunkten machen, verschwände das Dreieck, es wäre nicht mehr vorhanden; auch wäre keiner der Eckpunkte noch ein Eckpunkt, vielmehr fände sich alles in einem Mittelpunkt wieder – aber im Mittelpunkt von etwas nicht mehr Vorhandenem!
Das entbehrt nicht einer gewissen Großartigkeit, wie man sie allerdings durchaus von den Newslettern unserer Bundestagsabgeordneten zu erwarten gewohnt ist. In aller Kürze (und auch einer bewundernswerten Unauffälligkeit nicht entbehrend) wird ja hier das Geheimnis der Politik in komplizierten Zeiten enthüllt: Es ist die Eckpunktzentralisierung, mit der verglichen die Quadratur des Kreises eine Anfängerübung ist. All die dem Laien nicht mehr zugänglichen Probleme, mit denen sich Politiker heutzutage herumschlagen, seien es die Griechenlandkrise oder die Energiewende, die Flüchtlingsproblematik oder der Krieg in der Ukraine, lassen sich offenbar mithilfe dieser Methodik nicht nur beschreiben, sondern lösen.
Eine Große Koalition ist, wie erwähnt, als Dreieck zu beschreiben. Schreiten wir nun aber fort zu etwas Größerem, der EU. Sie hat 28 Mitglieder. Hier bewegen wir uns zweifellos nicht mehr im Bereich der Ebenen, sondern wir dringen zu den räumlichen geometrischen Figuren vor, den Würfeln, Pyramiden und dergleichen: ins Dreidimensionale. Ein Körper mit 28 Ecken – bitte, ich begebe mich nun aufs Eis, denn von Geometrie verstehe ich im Grunde nichts – befände sich irgendwo zwischen einem Rhombenkuboktaeder (mit 24 Ecken) und einem Ikosidodekaeder (mit 30 Ecken), und es bedarf keiner großen Fantasie, zu erkennen, dass die Eckpunktzentralisierung bei einem derart komplexen Körper ein geradezu spektakulärer Vorgang ist.
Denn man sollte sich die Zusammenführung so vieler Eckpunkte zu einem Zentralpunkt und die damit verbundene Implosion der Ausgangsfigur vielleicht am besten wie den umgekehrten Urknall vorstellen, alles geht sozusagen auf Null zurück. Wobei: Wer kann sich schon den Urknall vorstellen? Sagen wir also lieber: Wir führen uns den Film eines Feuerwerks vor Augen, den man rückwärts laufen lässt, das ist besser: Wir gewinnen sofort ein Bild der von Frau G. erwähnten Kühnheit. Letztlich ist dies ja ganz offensichtlich der von dem Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann beschriebenen »Reduktion vom Komplexität« verwandt, die in der Überschaubarmachung des Un-überschaubaren besteht, Luhmann konnte sich nur nicht so gut ausdrücken: Man kann in einer unübersehbaren Welt mit unbegreiflichen Problemen nur überleben, wenn man sich das Ganze irgendwie vereinfacht. Der Islamist hat dafür den Islam, Frau Sahra Wagenknecht den Marxismus, wir Merkelianer, Gabrielisten und Seehoferanten haben die Eckpunktzentralisierung.
Noch einfacher fasste es nur der Philosoph Sepp Herberger in Worte: »Der Eckpunkt muss ins Zentrum.«
Ach, dies ist ein großer Tag! Fast möchte man sich noch eine Pressemitteilung der Grünen-Bundestagsabgeordneten Dr. Julia Verlinden aus dem Jahr 2014 vornehmen, die mit der Überschrift »Fracking: Eckpunktepapier mit extragroßen Schlupflöchern« verziert war. Doch wollen wir nun ein wenig ruhen.
Illustration: Dirk Schmidt