Interessant ist ja nun die Geschichte von Ellis C. Battista, der sich eines Sonntags morgens um halb vier in Las Cruces/New Mexico vor Bradley’s Laden einfand, einem Geschäft für Artikel täglichen Bedarfs. Battista, 24 Jahre alt, wollte Zigaretten kaufen, der Laden hat normalerweise 24 Stunden geöffnet, aber jetzt war trotzdem niemand da. Unser Mann hämmerte ein paar Mal mit den Fäusten gegen die Tür, dann trat er sie ein. Er nahm sich ein Päckchen Zigaretten, hielt sechs Dollar vor die Überwachungskamera und legte das Geld auf den Tresen.
Worauf er eine rauchen ging.
Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass sich ungefähr achtzig Meter von Bradley’s entfernt ein Geschäft namens Walgreens befindet, das ebenfalls Zigaretten führt und um diese Zeit geöffnet hatte. Man könnte deshalb (wie die Polizei von Las Cruces) davon ausgehen, dass Ellis C. Battista Drogen genommen hatte, betrunken war oder sonst wie nicht ganz auf der Höhe – und die Sache damit vergessen. Wären da nicht noch andere seltsame Fälle!
In Washington D.C. zum Beispiel drang ein Mann nachts um drei in ein (um die Zeit geschlossenes) Hamburger-Restaurant von Five Guys ein, um sich in der Küche einen Cheeseburger zuzubereiten: Man kann das in einem dreiminütigen Überwachungsvideo betrachten, der Koch scherte sich keinen Deut darum, dass er gefilmt wurde.
Und in Edmonton/Kanada geschah Folgendes: Ein Mann verschaffte sich nachts Zugang zum Fitness-Center No More Excuses, trainierte und ging wieder. Seine schmutzigen Schuhe hatte er vor der Tür ausgezogen, die Krümel eines nach dem Üben verzehrten Chicken Wraps sauber aufgefegt, das Handtuch in den Korb geworfen. Außer Kleinigkeiten fehlte nichts, dafür war die Kleidung des Mannes noch da. Man verhaftete ihn, als er morgens zurückkehrte, um sie zu holen.
Das Bemerkenswerte an diesen Fällen: Menschen akzeptierten nicht, dass Geschäfte geschlossen waren. Sie hatten jeweils ein Bedürfnis (nach Zigaretten, einem Cheeseburger und einem Workout), und sie gedachten, dem nachzukommen, eine Gewohnheit, die dem Menschen in der digitalen Welt nun einmal zu eigen ist.
Denn anders als früher wollen wir heute alles sofort und bekommen es auch. Ist uns nach einem bestimmten Film zumute, müssen wir nicht warten, bis er im Fernsehen läuft, sondern finden ihn bei Amazon, Netflix oder im DVD-Regal. Möchten wir ein Buch lesen, tippen wir auf einem Gerät herum – schon erscheint es. Ist uns nach Essen, so essen wir. Wollen wir einkaufen, so kaufen wir ein. Möchten wir Auto fahren, so rufen die Carsharing-Anbieter Drive now! oder »Jetzt ein Auto«.
Wenig gibt es, auf das man warten müsste; selbst Fußballspiele, einst ein strikt auf Wochenenden begrenztes Vergnügen, finden heute praktisch jeden Abend statt. Man beginnt schon mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln, öffnet sich eine Internetseite nicht binnen eines Wimpernschlages, und reagiert jemand nicht blitzartig auf eine SMS, macht man sich Sorgen oder ihm Vorwürfe. Die Welt ist rund um die Uhr geöffnet, sie steht zur Verfügung. Alle sind wir auf eine kindliche Weise zu Sofortisten geworden. Muss uns überraschen, was in Las Cruces, Washington, Edmonton geschah? Dass Menschen Gewohnheiten aus der digitalen Welt ins analoge Geschäftsleben übertragen?
Wie? Ein Geschäft ist geschlossen?
Selbst schuld, dass ich seine Tür eintrete.
Übrigens soll es Kinder gegeben, die immer wieder mit dem Spreizen von Daumen und Zeigefinger versuchen, ein Foto in der papierenen Morgenzeitung zu vergrößern. Und was tat ich neulich, als Paola, meine Frau, auf dem Beifahrersitz des Autos zu leise sprach? Ich drehte den Lautstärkeregler am Lenkrad hoch.
Ist das nicht gruselig?
Nein, fürchterlich wäre erst, wenn sie dann tatsächlich lauter spräche.
Illustration: Dirk Schmidt