Kürzlich las ich, viele Vordenker des Internets seien verzweifelt darüber, welche Entwicklung ihre Idee genommen habe. Die sozialen Medien zerstörten den Zusammenhalt der Gesellschaft. Dabei hätten sie, deren Erfinder, geglaubt, der freie Austausch von Gedanken werde die Welt zu einem besseren Ort machen.
Ich glaube, diese Leute haben etwas Entscheidendes übersehen: Der Mensch nutzt das Internet weniger zum Austausch von Gedanken als von Gefühlen. Er ist nämlich nicht zuerst ein Vernunftwesen. Er wird von seinen Empfindungen bestimmt. Das Internet ist eine Emotionsmaschine.
Wir leben im Zeitalter der Wut.
Täglich werden Polizisten bespuckt, Rettungssanitäter geschlagen, Feuerwehrleute beschimpft. Wegen einer dämlichen Bemerkung kann jeder Politiker jederzeit im Zentrum tagelanger Pöbeleien stehen; der Shitstorm wird auch nicht mehr erschrocken als widerwärtig gesehen, sondern selbstverständlich hingenommen wie das Wetter. Viele Menschen sind wütend, weil sie sich überall von Verbrechen bedroht wähnen, obwohl die Verbrechensrate ständig sinkt. In England wurden in vierzehn Monaten 3446 Fälle gemeldet, bei denen Fahrer zornesrot auf der Autobahn durch Baustellen hindurchfuhren; das sind mehr als zehn Fälle pro Tag. Es gab deshalb 150 schwere Unfälle. Und das mächtigste Land der Welt wird regiert von einem dauerhaft wutentbrannten alten Mann.
Im Guardian las ich einen Artikel, in dem die Wut als bestimmende Kulturkraft unserer Zeit bezeichnet wurde. Die Autorin zitierte den Londoner Psychotherapeuten Aaron Balick, der ein Buch über die Psychodynamik sozialer Netzwerke geschrieben hat. Es war die Rede von jener permanenten Aufgeregtheit, die das Internet beherrscht und die man als Hysterie bezeichnen kann, wenn man darunter ein Zuviel an Gefühl versteht, das aber nicht mit seinen realen Ursachen in Verbindung steht.
Die Menschen sind nervös, ängstlich, erregt, weil sie Angst haben, von rasenden Entwicklungen überrollt zu werden, nicht mithalten zu können mit dem Tempo, keinen Platz mehr zu finden in der Welt. Aber davon ist nicht die Rede. Stattdessen wird getobt: über Baustellen, Politiker, Migranten, Verbrechen, Europa, Rassisten, Nazis, was weiß ich.
In Newcastle beobachtete ein älteres Ehepaar ein jüngeres nackt in der Nachbarwohnung. Sie klebten einen Zettel an deren Tür: »Wir sind es leid, einen großen Hintern, große Brüste und den kleinen Willy zu sehen. Wir werden Sie wegen Exhibitionismus anzeigen.« Das jüngere Paar postete den Zettel bei Facebook. Nun regten sich dort Tausende über das ältere Paar auf, nicht bloß in Newcastle. Weltweit. Über einen Zettel. An einer Tür. In Newcastle.
Menschen würden wütend, sagt Aaron Balick, wenn Grenzen überschritten würden: zu ihrem persönlichen Leben zum Beispiel, wenn ihnen also jemand zu nahe komme, ihnen auf die Füße trete, sie anrempele. Weil viele im Internet aber ihr Privatleben ausbreiteten, gebe es dort auch immer mehr Gelegenheit zu solchen Grenzüberschreitungen. Leute fühlten sich überhaupt von allem Möglichen immer gleich auch persönlich berührt, würden wütend, gäben dem Ausdruck. Es sei wie mit dem Dauergemoser in vielen Büros, nur eben jetzt global.
Wut, sagt Balick, gebe dem Menschen für Sekunden eine Illusion von Macht. Indem man andere tobend überrolle, habe man das Gefühl von Kontrolle. Nach diesem Empfinden könne man süchtig werden. Deshalb fangen Menschen an, nach etwas zu suchen, was sie wütend machen könnte. Sie möchten wütend sein. Sie brauchen das.
Das Internet bietet Stoff. Über irgendwas kann man sich immer erregen. So wird die Welt von Wut vergiftet.
Es wäre schön, von den Erfindern des Internets Gedanken zu hören, wie man mit den Folgen ihrer Idee fertig wird.
Wir warten.
Aber es eilt.