Zu Beginn eines Jahres ist es jedes Mal wieder kaum vorstellbar, dass man sich an die neue Jahreszahl gewöhnen könnte. »2008«: Die Gestalt dieser Zahl – das merkwürdig Bauchige, wie in der Christbaumkugelschrift einer 14-Jährigen geschrieben – wirkt fremd. Vertraut ist noch das gerade abgelaufene Jahr, dessen Physiognomie eher etwas Sprödes, fast Gezacktes hatte. Die neue Zahl hingegen ist rund, weich, eine Formation ineinandergeschobener Ringe (und in ihrem Aussehen deutet sich schon an, dass in diesem Jahr Olympische Spiele stattfinden werden). Auch wenn jeder weiß, dass diese Irritation nur kurze Zeit anhält: Das Umschlagen der Jahreszahl, von einer Sekunde auf die andere in der Silvesternacht, fühlt sich noch wie ein unbotmäßiger Sprung an. Als einziges Element der Zeitrechnung folgt die Jahreszahl keiner zyklischen Ordnung. Alle anderen Bestandteile – der Monat, der Kalender- und Wochentag – kehren wieder; die Zählung der Kalenderjahre aber bleibt linear. Der Blick auf die neue Jahreszahl in den ersten Januartagen ist daher wie der Blick auf die spiegel-glatte Oberfläche einer Science-Fiction-Landschaft: keine Spur von Gegenwart erkennbar, nichts als reine, ungewisse Zukunft.
Am ehesten gelingt die Aneignung der neuen Jahreszahl, indem man sie niederschreibt, am Anfang eines Briefes oder einer Notiz. Mit diesem Akt beginnt das Jahr erst richtig; der Stift weiht es offiziell ein, so wie die Schere eines Bürgermeisters, der ein Band durchschneidet, eine Brücke für den Verkehr freigibt. Doch die Konzentration, die leichte Überwindung, die dazu nötig ist, zeigt sich in den notorischen Schreibfehlern, die jeder in den ersten Januartagen begeht. Wer alte Tagebücher durchblättert, entdeckt falsche Datierungen fast zu jedem Jahresanfang, und zweifellos werden auch am heutigen Tag ungezählte Papiere mit »4.1.07« überschrieben. Sogar in Dichter- oder Philosophenkorrespondenzen stößt man häufig auf solche Flüchtigkeitsfehler, die vom Herausgeber der Ausgabe dann dezent korrigiert werden, durch die Ergänzung der richtigen Jahreszahl in eckigen Klammern. Die falschen Datierungen aber erzählen von einer Überrumpelung, einer allzu abrupten Verfrachtung; die Schreiber sind noch nicht ganz am Zielort angekommen, wie die Passagiere eines übermäßig schnellen Transportmittels.
In der Kindheit gab es tatsächlich so etwas wie Abschiedsschmerz der alten Jahreszahl gegenüber. Die Ereignislosigkeit der letzten schulfreien Tage Anfang Januar konnte sogar dazu führen, dass man irgendwann ganze Blätter bekritzelte mit der abgelaufenen Zahl, wie um ihr ein letztes Mal zu gedenken, um sie würdevoller zu verabschieden. Und war es nicht tatsächlich so, dass manche Jahre schöner waren als andere – nicht was die Ereignisse in ihm betrafen, die eigenen Glücks- oder Schreckenserinnerungen, sondern allein von der Gestalt der Jahreszahl her. In Erinnerung geblieben ist etwa der eigentümliche Unmut vor dem Jahr 1981, vor dem Ungelenken, Nichtssagenden seiner Physiognomie, das eine so schöne Jahreszahl wie 1980 ablöste, in deren Würde und ruhiger Souveränität sich der Beginn eines neuen Zeitalters ausdrückte.
Vielleicht hat die kurze Zeitspanne Anfang Januar, in der sich die neue Jahreszahl noch nicht endgültig etabliert hat, auch eine Entsprechung im Verhalten der Menschen »zwischen den Jahren«. Denn das Ungefestigte, Fließende der Ziffern erinnert an jene Elastizität, die man in diesen Tagen seiner Lebensgeschichte zuspricht. Die ersten Januartage gelten bekanntlich als Zeit der guten Vorsätze, der Ambition, alteingesessene Muster und Unzulänglichkeiten in Frage zu stellen. Die eigene Biografie scheint plötzlich formbar zu sein, ein vollständiger Neubeginn möglich. Doch beide offenen Lagen verfestigen sich so rasch wie unausweichlich. Und die gewohnte Existenz rastet spätestens in dem Moment wieder ein, in dem das Befremdliche der neuen Jahreszahl verblasst ist.