Palästinensertuch

Beim Gang durch die Fußgängerzonen fühlt man sich in diesem Herbst ein wenig wie in einem Demonstrationszug der Siebziger- oder Achtzigerjahre. Etliche Hälse sind mit schwarz-weißen Palästinensertüchern bedeckt – mit dem Unterschied allerdings, dass es sich nicht um politische Aktivisten handelt, sondern um 13-jährige Mädchen. Das Palästinensertuch ist endgültig zurück auf den Straßen; nachdem das Kleidungsstück im letzten Jahr durch die teure Kaschmir-Variante des Modelabels Lala Berlin wieder ins Bewusstsein rückte, ist es seit Kurzem auch bei H&M erhältlich und damit allgegenwärtig.

Am Schicksal des Palästinensertuchs ließe sich natürlich einmal mehr die Geschichte erzählen, dass Mode wie ein Vampir den rebellischen Gehalt von Kleidungsstücken, Accessoires und Frisuren aussaugt und sie in leere Optionen des Tragbaren verwandelt. Was als aufgeladenes Zeichen des politischen Bekenntnisses oder der abweichenden Biografie an vereinzelten Körpern auftaucht – der Nietengürtel, der Irokesenschnitt, die Tätowierung –, wird nach Jahren oder Jahrzehnten in das alltägliche Erscheinungsbild der Menschen integriert.

Nun ist also das Palästinensertuch, nachdem es knapp zwanzig Jahre aus der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie verschwunden war, an der Reihe. Als Symbol des linken, antiamerikanischen Widerstands kam es Ende der 1960er-Jahre nach Deutschland, importiert offenbar von Aktivisten des Studentenprotests, die von den Ausbildungslagern der PLO zurückkehrten. Unter den Trägern entwickelte sich in den Siebzigerjahren eine fein differenzierte Symbolik – die schwarze Musterung für den eher gemäßigten Widerstand, die rote für die anarchistische Bewegung, die lilafarbene für den Feminismus. Sie wiederholte im Bereich politischer Anschauung jene Farbzuordnung, die im arabischen Raum ursprünglich als Hinweis auf die Herkunft der Träger galt.

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Das Ungewöhnliche an der Geschichte des Palästinensertuchs ist aber, dass sein Werdegang nicht allein jenem viel beklagten Modegesetz folgt. Denn neben seiner Entwertung als Zeichen ist in jüngster Vergangenheit noch eine zweite Tendenz zu beobachten: seine Umwertung, die Aufrechterhaltung seiner politischen Symbolkraft im entgegengesetzten Sinn. Seit etwa drei Jahren hat sich das Palästinensertuch bei Rechtsradikalen als antisemitisches Accessoire auf Kundgebungen etabliert. Das Kleidungsstück hat also in letzter Zeit eine ungewöhnliche Fülle von Zuschreibungen erhalten. Es ist mittlerweile ein Fetisch der Linken wie der Rechten, des Luxus wie der Askese, der Haute Couture wie der Alltagsmode; sowohl auf dem politisch-kulturellen als auch auf dem ökonomischen Spektrum erfasst es alle Facetten.

Wenn man sich fragt, womit dieser vielfache Einsatz des Palästinensertuchs und seine neue Beliebtheit vor allem im Modedesign zu tun haben, dann könnte man vielleicht sagen, dass es unter den berühmt gewordenen Kleidungsstücken mit politischem Ursprung das einzige ist, das auf ein Muster reduzierbar ist. Alle ähnlichen Accessoires, wie die Kappe Castros, der rote Stern, die Mao-Jacke, sind in ihrer Variationsfähigkeit beschränkt. Das Palästinensertuch dagegen ist, unabhängig von seiner konkreten Funktion, zu einem weltberühmten Markenzeichen geworden, eine Art provokatives Burberry-Karo. Deshalb taucht es allein in diesem Jahr nicht nur als das altbekannte schlichte Tuch auf, sondern auch als perlenbestickter Schal, als Kleid oder Reisetasche.

Eine besonders interessante Abwandlung hat sich anlässlich des Münchner Oktoberfestes ergeben. Die Traditionsgeschäfte der Stadt führen gerade Dirndl-Schürzen im Palästinensertuch-Look. Der lange Weg, den das Muster zurückgelegt hat, wird hier besonders anschaulich. Aus dem politischen Zeichen ist ein Bestandteil bayerischer Folklore geworden, ein Element des Crossovers von Trachten.