Wer diesen Mann verstehen will, der muss sich anschauen, wie er diesen Körper trägt, der ihm zu groß ist, der an ihm regelrecht hängt, der ihm einfach nicht passt, wie ein schlecht geschnittener Anzug. Schief sitzt dieser Körper meistens, er sieht darin aus wie ein Junge, der sich wie sein Vater verkleiden wollte und jetzt drollig schlenkernd und schwankend durch die Gegend stapft, die Arme vom Rumpf abgespreizt, damit er nicht einfach der Länge nach umfällt. Es ist dieses Bubenimage, eines der großen Missverständnisse, das den dauernden, widersinnigen Erfolg des Horst Seehofer ausmacht.
Er war ja mal der Politiker für die Menschen, die Politiker nicht mochten: die Übertragung des Kindchenschemas auf die Sphäre der öffentlichen Macht – und die Menschen fielen auf ihn herein, weil sie dem Jungen im Mann glaubten, weil sie das Ungelenke täuschte, weil sie sich diesem Blick nicht entziehen konnten, der irrlichterte und ihnen sagte: Ich weiß auch nicht, was ich hier wieder soll, was ist denn mit all den Kameras, wie bitte, wo bin ich, ach so, CSU-Zentrale, na, hoppla, also, wenn ihr wirklich wollt, dann mache ich das, für euch, nur für euch mache ich das, weil sonst, ja sonst würde ich eben noch ein wenig weiter meinen Körper durch Berlin spazieren führen, wo ich meine Geliebte hatte und mein Kind, die ich dann unter dem Druck der Medien und der Partei verlassen oder verraten habe, ganz wie ihr wollt. Horst Seehofer ist, mit anderen Worten, ein realpolitischer Opportunist, von der Kopfpauschale im Gesundheitswesen, die er erst forderte, dann verwarf, bis zur Gentechnik, die er erst unterstützte und von der er sich dann, jedenfalls »in Bayern«, verabschiedete.
Er war viermal weg, mehr oder weniger heroisch inszeniert, er kam
viermal wieder, mit vordergründig linkischer Art und dem Glorienschein des Einzelgängers. Im Prinzip ist dagegen auch gar nichts zu sagen, Politik ist ein Geschäft für Pragmatiker, und wer etwas anderes sucht, der sollte sich lieber bei »Ärzte ohne Grenzen« melden. Ein Problem wird es nur, wenn jemand davon profitiert, dass die Menschen denken, er sei der letzte Idealist.
Und Horst Seehofer war genau diese Hoffnung, er war eine Projektionsfläche, er war der Mann für all die, die dem romantischen Mythos anhingen, dass der Einzelgänger der bessere Mensch ist, dass der Schwierige der Ehrliche ist, dass jemand, der dauernd »aneckt«, sicher auf einen Fehler im System verweist. »Viel Feind, viel Ehr«, so würde das Seehofer sicher selbst sagen, der ja auch sonst gern simple Sachen sagt, wie: »Achtet mir die Bauern!« Und weil er dann 2002 auch noch fast an einer Herzmuskelentzündung gestorben wäre, profitierte er von der moralischen Reinheitsvermutung, die in unserer Kultur dem wieder genesenen Kranken gilt.
Mit dem leicht lächerlichen Pathos des dicken Kindes ist er nun wieder einmal zurückgekehrt. Wer Seehofer wirklich ist, spielt dabei keine Rolle. Ist er der Sohn eines Lastwagenfahrers mit mittlerer Reife? Ist er der Typ, der mit seinem wuchtigen Wackelkörper durch Berlin teddybärt? In der klassischen politischen Theorie gibt es die Lehre von den zwei Körpern des Königs, des leiblichen, sterblichen und des politischen, unsterblichen; in der medialen Demokratie gilt das im Grunde ganz ähnlich, hier sind es die Parlamentarier, die Minister, die Repräsentanten des Volkes, die einerseits die tapsigen, stolzen, arroganten, stotternden, wie auch immer begabten oder gestörten Individuen sind, die ehrgeizig sind und aufsteigen können und krank werden können und fallen – und es gibt sie in ihrer politischen Funktion.
Bei Horst Seehofer hat man lange den Fehler gemacht, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Dabei ist er nur der vielleicht letzte Repräsentant der klassischen bayerischen politischen Theorie, die sich grundsätzlich von der demokratischen Lehre unterscheidet und auf ein vormodernes Politikverständnis zurückgreift: Hier gilt immer noch die Ein-Körper-Lehre. Horst Seehofers Triumph ist damit eine Körper-Täuschung.
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