In Interviews mit jungen Pop- oder Filmstars findet sich ein häufig wiederkehrendes Bekenntnis zur Normalität. Die Frage, wie sie der rasante Erfolg verändert habe, beantworten sie gern mit der schematisch eingeübten Versicherung, sie seien nicht »abgehoben«, und dann erfolgt immer der gleiche Satz: »Ich fahre sogar noch regelmäßig U-Bahn.«
Die U-Bahn: eine beliebte Metapher, ein Synonym für das alltägliche Leben mit all seinen Unwägbarkeiten, für das Aufeinandertreffen unterschiedsloser Menschenströme – und der Star fühlt sich gerade deshalb bemüßigt, seine Verbundenheit mit dieser Sphäre zu betonen, weil er in Wahrheit so stolz darauf ist, sie hinter sich gelassen zu haben.
Vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussionen über Jugendkriminalität muss man sich noch einmal die Bedeutung jenes Ortes in Erinnerung rufen, an dem sie vor vier Wochen begonnen hat. Die U-Bahn ist nicht nur das wichtigste großstädtische Verkehrsmittel, sondern gleichzeitig auch ein Schaubild der urbanen Gesellschaft, ihr verdichtetes Doppel unter der Erde. Die Auseinandersetzungen nach dem Angriff auf einen Rentner im Zwischengeschoss eines Münchner U-Bahnhofs haben ein Ausmaß angenommen, bestimmen Landtags-Wahlkämpfe und Grundgesetz-Debatten, dass der Verdacht nahe liegt, der Schauplatz der Tat sei mitverantwortlich für diese Entwicklung. Hätte der brutale Überfall der beiden türkischen und griechischen Jugendlichen vier Tage vor Weihnachten eine ähnliche politische Dynamik entfacht, wenn er auf freier Straße erfolgt wäre oder in einer Gaststätte?
Auch wenn Verbrechen dieser Art in einer mitteleuropäischen Großstadt mit nicht zu unterbindender Regelmäßigkeit geschehen: Die Züge der Münchner U-Bahn sind vergleichsweise sicher; laut Kriminalstatistik gab es dort in den ersten drei Quartalen des Jahres 2007 keine einzige Gewalttat. In der aktuellen Diskussion geht es also, wie diese Daten besagen, weniger um reale Gefahren, als vielmehr um das allgemeine Unbehagen an diesem Ort, dessen Angstpotenzial durch ein einziges Ereignis entfesselt werden kann. Die unterirdische Lage des Verkehrsmittels, der Status als Kollisionspunkt der Massen und nicht zuletzt die flächendeckende Ausleuchtung durch Überwachungskameras machen diesen Raum zu einem Raum latenter Bedrohung.
Das U-Bahn-Netz ist eine verästelte Metropole unterhalb der Metropole, die einerseits ihr exaktes Ebenbild ist – sie verbindet dieselben Stadtteile, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten –, andererseits aber eine eigenständige Welt, in der man sich verirren kann. Unzählige Geschichten gibt es in der Literatur und im Kino, in denen die U-Bahn zum Ort der Desorientierung wird, der Ablösung von den gewohnten Lebenszusammenhängen. Und bemerkt man dieses prekäre Verhältnis zwischen Oben und Unten nicht schon an den Karten mit dem Streckennetz, die an der Decke jedes Waggons hängen? Man traut ihnen, sie scheinen eine verlässliche Übersetzung der Welt oberhalb vorzunehmen, aber bei genauerer Betrachtung zeigen sich Unstimmigkeiten.
So gibt etwa der Plan des Münchner U- und S-Bahn-Netzes vor, dass die Vororte der Stadt ausschließlich im Westen und Osten lägen, angeordnet in strenger Symmetrie. Irgendwann stellt man jedoch fest, auf einer Autofahrt oder einem langen Spaziergang, dass die Struktur der Karte mit den realen Gegebenheiten keineswegs übereinstimmt; die symmetrische Anordnung, aus Gründen der Übersichtlichkeit und Platzgewinnung gewählt, verzerrt die geografische Lage der Haltestellen erheblich. In den Karten zeigt sich also eine schroffe Kluft zwischen Realität und Abbildung.
Und genau diese Kluft, diese leichte Täuschung sollte man im Auge behalten, wenn es jetzt in Politik und Medienberichterstattung ständig darum geht, wie die Gefahren dieses Verkehrsmittels und das Verhalten der jungen, vorwiegend ausländischen Passagiere zu bewerten sind. Das Milieu der U-Bahn, jeder weiß es, reizt zu übertriebenen Reaktionen und verzerrten Bildern.