Wie gemütlich! Eine Mutter am Tisch stillt ihren Säugling, ein Gast greift über sie hinweg, tunkt den Löffel in das Marmeladeglas, beschmiert dick den Kanten Biobrot damit. »Endlich gutes Brot hier in der Gegend!«, sagt die Mutter lächelnd, Säugling an der Brust. In diesem Restaurant sitzen alle zusammen am urigen Gemeinschaftstisch aus altem Holz, wie zu Hause. Das Menü steht in verschnörkelter Kreideschrift auf einer Schiefertafel und der Kaffee kommt in so großen Schalen, dass man sie mit zwei Händen halten muss. Die alten Traktorsitze an den Wänden, das grobkörnige Salz auf den Tischen, die organische Salsa, alles in diesem Restaurant zwitschert: Hey, hier geht es um das Gute, das Wahre, das Echte – so wie wir, die modernen Großstädter mit Hang zu Nachhaltigkeit und gesundem Essen, es lieben. Ein Angestellter hievt Brotlaibe mit dicker Kruste in ein Regal, das aussieht, als wäre es um 1900 gebaut, und keinen würde es wundern, käme jetzt eine Oma mit roten Backen und gestärkter Schürze um die Ecke gebogen und würde ihn zum Dank in die Wange zwicken.
Was für eine Inszenierung! Gute heile Welt am Münchner Gärtnerplatz, im neu eröffneten Restaurant »Le Pain Quotidien«, also »Unser täglich Brot«. Würde man nicht wissen, dass es dieses Lokal schon 150-mal auf der Welt gibt, in 19 Ländern, in New York, London, Tokio, man könnte tatsächlich denken, in einem Tante-Emma-Laden mit Backstube zu sitzen, in der der Opa in Holzbottichen Marmelade rührt.
Also jetzt Moment mal! Ein Restaurant, das es 150-mal gibt? So was nennt man Systemgastronomie – und das sind doch die, die schlechtes Essen schnell und billig an den Mann bringen, die Menschen fett werden lassen, ihre Angestellten ausbeuten, vorgefertigtes Essen aus der Fabrik auf die Teller bringen, »Convenience Food« genannt, das mit den vielen E-Nummern drin: »Subway«, »Burger King«, »Pizza Hut«, »Tank & Rast«. Und jetzt soll man ausgerechnet denen glauben, dass ihre Biobrote mit Hummus-Aufstrichen in liebevoller Handarbeit hergestellt sind? Merken denn die brotkauenden stillenden Mütter nicht, dass sie einem Missverständnis auf- und in einer Kulisse herumsitzen, die so tut, als wäre hier alles gesund – während zur gleichen Zeit wahrscheinlich am Hintereingang die Laster die Backmischungen abladen? Ich war mir sicher: Die haben sich alle von dieser Inszenierung einlullen lassen! Aber mich übertölpeln die nicht. Die werde ich überführen, Schlawiner-Gastronomen, die.
Ja, so ging es mir damals vor drei Monaten, bei meinem ersten Besuch in »Le Pain Quotidien«. Nun wollte ich herausfinden, was für Schindluder in Läden wie diesen getrieben wird. Also verabredete ich mich mit André Köpping, Geschäftsmann mit ordentlich frisiertem Haar und frühlingsweißem Hemd, im »Le Pain Quotidien« am Gärtnerplatz. Köpping ist Anteilseigner einer Aktiengesellschaft, die die Deutschlandrechte der amerikanisch-belgischen Kette gekauft hat. Er sagte: »Nein, bei uns ist alles frisch.« Das Brot komme aus einer Landshuter Bäckerei und die Aufstriche rühre ein Koch täglich frisch. Das hört sich komisch an aus seinem Mund, weil er im gleichen Atemzug erzählt, sein gastronomisches Handwerk beim Buhmann der Gastronomie gelernt zu haben, beim Convenience-Bösewicht McDonalds. Ein McDonalds-Mann, der auf Slow Food macht? Wie bitte? Was ist denn los in der Gastronomie?
Auch André Köpping macht es sich an der Gemeinschaftstafel gemütlich und bestellt einen Kaffee – den trinkt er mit Sojamilch. »Alle wissen doch, dass die Menschen heute gesünder essen wollen und auf Qualität achten«, und dass das nicht nur er begriffen habe, sondern eine ganze Riege neuer Systemgastronomen, darunter einige ehemalige McDonalds-Leute. Sie haben neue Ketten erfunden oder in Lizenz nach Deutschland gebracht: »Vapiano«, bekannt für handgeformte Nudeln; »MoschMosch«, eine japanische Nudelbar; der Pizzabäcker »LOsteria«; »Mongos«, »Cha Chá«, »Gin-yuu« für Asia-Freunde; »Holyfields« mit internationaler Speisekarte – die meisten von ihnen spezialisiert auf »Frontline-Cooking«, was neudeutsch heißt, dass man den Köchen bei der Arbeit zusehen kann. Wie die Gänseblümchen schießen die Ketten aus dem Boden – gegründet alle in den letzten Jahren, diesem grünen, gesunden Jahrzehnt, mit dem Ziel, Essen frisch und trotzdem schnell an den Mann zu bringen.
Asiagemüse und Biobrot, über denen der Geist von McDonalds schwebt? Der Aufmarsch der Gesundheitsapostel, vereint im Frontline-Cooking? Keine Schlawiner-Gastronomen, sondern ganz liebes Fast Food? Hab ich was verpasst? Jetzt wollte ich versuchen, die Welt der Gastronomie zu verstehen.
Anruf bei der Geschäftsführerin für die Abteilung Systemgastronomie beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, Sandra Warden: »O ja, die Gastronomie hat sich im letzten Jahrzehnt den veränderten Lebensgewohnheiten der Menschen angepasst. Die haben keine Zeit mehr, wollen trotzdem leicht und gut essen, gern mehrmals am Tag kleine Portionen und immer dann, wann und wo sie es wollen.«
Wegen der vielen Skandale in der Lebensmittelindustrie sind die Menschen auf Qualität geeicht und durch Reisen interessiert an exotischen Gerichten, erzählt sie. Und auf dieser Blumenwiese wachsen und gedeihen die neuen Systemgastronomien, und während die kleinen Wirte seit Jahren über schwindende Umsätze klagen, freuen sich Systemgastronomen über gute Gewinne. Offene Küchen sind dabei groß in Mode, das kennen die Leute von den Kochsendungen im Fernsehen, sowie Essen, das frisch und gesund ist und am besten aus der Region kommt. Ungeschickt, wer seinem Lokal heute nicht einen lieblich-frisch-grünen Anstrich verleiht.
Marketing-Leute, was seid ihr für gerissene Hunde!
Alles Zeiterscheinung also. Von den Fast-Food-Ketten haben die neuen Systemgastronomen die standardisierten Abläufe übernommen, deswegen können sie viele ungelernte Arbeitskräfte beschäftigen. Die Rezepte entstehen nicht täglich neu im Kopf kreativer Köche, sondern lagern auf Datenbanken, vom Management zentral ausgegeben. Es gibt nur wenige Gerichte, die Zutaten werden in großen Mengen gekauft. Kein Braten wird lang geschmort, kein Fleisch über Tage mariniert. Alles geht schnell und wird erst nach Bestellung zubereitet, das spart Ausschuss.
Von der klassischen Gastronomie haben die neuen Systemgastronomen die Inszenierung geklaut: Bloß nicht aussehen wie Fast-Food-Sklaven – darum tragen Leute hinterm Frontline-Cooking-Tresen abgewandelte Kochuniformen, auch wenn sie nur Nudeln mit Soße zusammenmischen. Der Mensch heute will am liebsten immer etwas erleben, beobachten Soziologen, auch beim Essengehen. Lieber als »Fast Food« sagen die neuen Systemgastronomen »Fast Casual Dining«, was sagen soll, dass sie ein Zwischending aus Fast Food und klassischer Gastronomie sind, und statt »Selbstbedienung« heißt es bei ihnen »Selbstbestimmung«. Marketing-Leute, was seid ihr für gerissene Hunde!
Alles frisch, alles schnell, Erlebnis inklusive: Heraus kommt Turbogastronomie, die gut in unsere Zeit passt. Längst gibt es Opfer zu beklagen: Landgasthöfe sterben, in den Einkaufstraßen großer Städte überleben nur noch Kettenlokale, die sich neben Parfümerie- und Bekleidungsketten behaupten. »Die kleinen Wirte können eine Menge von den Systemgastronomen lernen – und viele machen es jetzt auch«, sagt Sandra Warden vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband.
So weit, so klar, habe verstanden. Aber wer verwendet dann diese vorgefertigte, abgepackte Convenience-Ware? Klaus Wilfried Meyer, Vorstandsmitglied im Verband der Köche Deutschlands, sagt: »Viele. Immer mehr Convenience-Produkte ziehen in die Küchen ein.« Weil die Anbieter von Convenience-Waren nicht doof sind, haben sie neue Produkte und Wörter erfunden wie »Bio-Convenience«, »Gourmet-Convenience« oder »Convenience-Ware in Handmade-Optik«: von der Maschine extra unregelmäßig hergestellte Rösti etwa oder Pommes frites, die aussehen wie handgeschnitten – Fertigessen mit Tarnung sozusagen.
In ihrer Studie Food-Styles nennen die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler und die Trendforscherin Anja Kirig diese neue Generation von Fertigessen »Convenience 2.0«. Kaum eine Küche ohne Convenience-Produkte, unerkannt vom Gast, totgeschwiegen vom Koch – das spart Arbeit, liefert die immer gleiche Qualität und ist hygienisch. »In manchen Küchen sind die Köche nur noch Heißleger«, sagt Klaus Wilfried Meyer vom Verband der Köche Deutschlands, das heißt, sie machen ausschließlich vorgefertigtes Essen warm. Bei Convenience-Produkten unterscheidet man fünf Stufen: Die niedrigste, eins, meint geschnittene Zwiebel oder entbeintes Fleisch, mehr nicht, Stufe fünf bedeutet komplettes Fertigessen auf dem Teller, das gebe es oft beim Catering, in Krankenhäusern oder in Kantinen, sagt Klaus Wilfried Meyer.
Also runter in unsere eigene Kantine, die der Süddeutschen Zeitung. Wir wollen uns dieses Convenience-Zeug von Thomas Kisters genauer erklären lassen. Kisters ist Unternehmensberater für die Gastronomie und war selbst Koch, bevor er in den dunkelblauen Anzug wechselte. Kisters hat sich die SZ-Kantine ausgedacht. Und wieder falsch getippt: Die Malta-Kartoffeln vom Mittwoch, der Kirschmichl vom Freitag, die Crème brûlée von gestern: »In der SZ-Kantine ist alles frisch und selbst gemacht. Wir benutzen ganz selten mal Convenience Stufe eins, höchstens mal Oliven im Glas«, sagt er. Das Konzept heiße »Frische-Kantine« und bedeute, dass jede Suppe, jede Sauce selbst gekocht ist, das sei ziemlich neu in Deutschland, sagt er.
Ja, Herrgott, sind denn alle Engel geworden? »Aber wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen eine Stufe-fünf-Kantine«, sagt er und wir verabreden uns für den nächsten Tag vor einem großen Münchner Unternehmen.
Und da sind sie dann alle beieinander: Saucen, die quellen, wenn man kaltes Wasser dazuschüttet, fertig paniertes Cordon bleu für die Fritteuse, Krautsalat aus dem Zehn-Liter-Eimer. Kisters aus der SZ-Kantine benennt einige Convenience-Gerichte: »Das ist der gebackene Camembert der Firma Alpenhain, das der Farmersalat von Grossmann.« Der Betreiber, ein Unternehmen, das viele Kantinen in Deutschland beliefert, hat sogar eigene Convenience-Linien erfunden mit geschönten Namen, die nach Gesundheit und Vitalität klingen. Wer so ein Gericht bestellt, bekommt Blumenkohl-Tomaten-Curry mit Reis – fertig aus der Tüte. Aber neben der Ausgabetheke steht ein ganzer Wald von Lavendel- und Rosmarinbäumchen, und auf grünen Zetteln erklärt ein Mädchen mit grünen Augen, wie gesund grüner Bärlauch ist.
Wer soll da noch mitkommen? Wer kann noch erkennen, was er isst, von wem, wie hergestellt? Wer blickt noch durch, ob er in einem Lokal mit Frische-Garantie sitzt oder in einem, in dem nur die Dekoration frisch ist? Thomas Kisters sagt: »Das ist sogar für uns Experten schwer zu durchschauen. Am besten: Fragen Sie!« Denn lügen dürfen Wirte und Köche nicht – das wäre Betrug.
Was ich jetzt immerhin weiß: Auch in der Welt der Gastronomie vermischt sich, was sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheint, wie bei einem Porsche Hybrid. Es gibt McDonalds-Leute, die in Slow Food machen, oder Bio-Convenience in Handmade-Optik. Der Wirt an der Ecke schaut vom Systemgastronomen ab, und Systemgastronomen tun so, als seien sie der Wirt an der Ecke. Soziologen beobachten die Hybridisierung unseres Alltags schon lang, und meinen damit Menschen, die bei Aldi einkaufen, aber bei »Dallmayr« essen gehen oder mit dem Flugzeug in das umweltfreundliche Bio-Hotel fliegen. Grenzen verschwimmen, Stile und Haltungen kreuzen sich. Auch die Gastronomie ist zu einer einzigen, großen Schorle geworden – aber bitte mit grünem Pfefferminzblättchen drin!
»Das ist die Zukunft«, sagt André Köpping, der McDonalds-Mann, der heute in Biobrot macht.
Fotos: Camillo Büchelmeier; Illustrationen: Verena Hennig