Als ich vier Jahre alt war, stand ich mit meiner Mutter vor einer Metzgertheke. Die Verkäuferin reichte mir eine Scheibe Wurst mit einem Teddybärengesicht darauf. Ich schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Ich konnte diesen Bären nicht essen.
Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Die Ironie der Geschichte ist: Ich bin heute, mit dreißig Jahren, der Einzige in der Familie, der noch Fleisch isst.
Meine Eltern und meine Schwester haben ihre Ernährung in den vergangenen zwei Jahren umgestellt. Meine Schwester schaute Dokumentationen über Massentierhaltung, meine Eltern wollten gesünder leben. Heraus kam eine Art vegetarisch-veganes Wettrüsten, das ich bis heute in Echtzeit verfolgen kann, obwohl wir an verschiedenen Orten leben. Als meine Schwester schwanger wurde, rief sie einen Familien-WhatsApp-Chat ins Leben, der »We’re having a baby« und heute »We have a baby!« heißt. Der Chat besteht zu zwei Dritteln aus Baby-Content und zu einem Drittel aus Food-Fotos: von Quinoa-Salat zum Beispiel und von Avocados, Bananen und Bio-Kakaopulver, die meine Schwester zu einer Art Mousse au Chocolat püriert. Auch Zucker und Butter werden nicht mehr gern gesehen. Im Haus meiner Eltern in Tirol gab es immer eine Schublade voller Schokolade. Heute ist sie gefüllt mit getrockneten Goji-Beeren. Ich fuhr neulich mit einer Flasche Rotwein auf dem Beifahrersitz zu meinen Eltern, weil ich nicht mal mehr sicher sein kann, ob sie noch Alkohol im Haus haben. Und wenn die Familie am 24. Dezember in Tirol zusammenkommt, steht mir eine vegane Weihnacht bevor. Vergangenes Jahr gab es Kürbis, gefüllt mit Hirse.
Zu Beginn fand ich das alles nur ein wenig absurd, vor allem weil sich alle benahmen, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, kein Fleisch und kaum Zucker zu essen. Bestellte sich mein Vater nicht in London, wenn wir die Familie meiner Mutter besuchten, beim Dim-Sum-Chinesen immer Hühnerfüße? Und hatte er sich nicht über mich lustig gemacht, weil ich mich als Teenager immer wieder phasenweise zum Vegetarier erklärte? – »Ist der junge Mann heute Vegetarier, oder darf ich normal kochen?«
Doch mit der Zeit merkte ich, dass es noch etwas anderes war. Es ging tiefer. Geschichten über Essen verbinden einen mit den Vorfahren, der eigenen Vergangenheit. Für uns war Essen ein Katalysator, um über die eigene Familiengeschichte zu sprechen, ohne dabei die Heiterkeit zu verlieren.
Die Eltern meines Vaters waren polnische Juden aus Lodz. Wir redeten selten über ihre Holocaust-Vergangenheit, aber oft über den Tscholent mit Kischke, eine Art Kartoffel-Bohnen-Rindfleisch-Eintopf mit gefülltem Kalbsdarm, den meine Urgroßmutter am Freitag, wenige Stunden vor Schabbat, zum Bäcker trug, damit der ihn bis Samstagmittag im Ofen schmoren ließ. Noch heute lachen wir darüber, dass mein Vater dieses Gericht servierte, als meine erste Freundin zum ersten Mal zu Besuch kam. Man muss damit aufgewachsen sein, sonst schmeckt es nicht.
Wir sprachen auch wenig über die Geschichte meiner Mutter, die, als sie drei war, mit meiner Großmutter von Trinidad nach London übersiedelte. Oft aber ging es um den Truthahn mit »stuffing«, einer Maroni-Wurst-Füllung, den meine Mutter an Heiligabend servierte, wie man das in London eben macht. Und als Nachspeise »Black Cake« aus Trinidad, oder, wie Freunde meiner Eltern immer sagten, den »betrunkenen Kuchen«, den man kurz vor dem Anschneiden mit einer Flasche Rum übergießt und anzündet.
Kurzum: Essen hilft dabei, sich zu erinnern. Bedeutet das aber nicht auch, dass aus einer Ernährungsumstellung das allmähliche Vergessen folgt?
Seit der Veganismus in unserer Familie Einzug gehalten hat, kommen neue Geschichten hinzu. Wir amüsieren uns schon jetzt sehr darüber, wie beleidigt mein Vater im Sommerurlaub in Italien in diesem Jahr reagiert hat, als ich seinen frisch gepressten Sellerie-Ingwer-Karotten-Saft verschmäht habe. Und vielleicht steckt hinter seinem dringenden Wunsch, ich solle möglichst viel von dem Gemüsesaft trinken, die gleiche Fürsorge, die ihn früher dazu brachte, mir heimlich Bresaola-Schinken in die Reisetasche zu stecken, bevor ich mit dem Zug zurück zum Studieren fuhr. Es ist wohl so, dass wir die Familiengeschichte nicht überschreiben, sondern erweitern. Denn die Anekdoten über frühere Mahlzeiten sind nicht weg, im Gegenteil, sie werden sogar öfter erzählt als früher, als lustige Beispiele dafür, wie ungesund wir damals gegessen haben – und natürlich dienen sie immer noch als Fenster in die Vergangenheit unserer Vorfahren. Wenn nun neue Geschichten dazukommen, bedeutet das schlicht, dass sich Menschen verändern, dass sie neue Facetten gewinnen.
So kann ich mir das zurechtdenken. Außerdem freue ich mich natürlich, dass ich von meinen Low-Carb-Quinoa-Eltern wahrscheinlich länger etwas haben werde, als wenn sie weiter Kalbsdärme und Rumkuchen gegessen hätten.
Foto: Markus Burke, Foodstyling: Akos Neuberger