Jenny und Theo kriegen viel zu viel Lob von mir. Praktisch für nichts. Ich lobe sie am Morgen, ich lobe sie am Mittag, ich lobe sie am Abend und vor dem Schlafengehen noch einmal, obwohl Jenny und Theo nichts, aber auch gar nichts können oder tun, was über das normale Hunde- und Katerkönnen oder die normale Hunde- und Katertätigkeit hinausgeht. Ich lobe sie für ihre bloße Existenz, wie ich zuweilen Gott lobe, wenn ich ausnahmsweise mal mit seiner Schöpfung einverstanden bin. Die Schöpfung wird dadurch kaum besser, aber die Lobhudelei der Tiere kann ich wärmstens empfehlen. Sie gedeihen prächtig und funktionieren problemlos.
Der Kater fängt Mäuse, wie sich’s gehört, hält die Stube rein, verbringt viel Zeit an der frischen Luft, lässt sich in der Ablage meines Schreibtischs häuslich nieder. Er schnurrt gemütlich zu mir herüber und löst höchstens mal während meiner Abwesenheit im Büro durch einen gekonnten Sprung auf die Computertastatur einen Befehl aus, der das Druckerfach leert. Die Hündin bewegt sich mit mir ohne Leine souverän durchs größte Verkehrsgewühl, fällt keine Leute an, bellt nicht unnötig und benimmt sich überhaupt wie die Absolventin einer Elite-Hundeschule. Sie war aber nie auf so einer Schule, ist auch wenig erzogen, sondern eigentlich immer nur gelobt und geliebt worden, auch dann, wenn es nichts zu loben gab. Aber warum lobe ich eigentlich meine Kinder so wenig? Und warum macht es mich so aggressiv, wenn Eltern ihre Kinder dau-ernd über den grünen Klee loben? Weil ich vor lobenden Eltern als pädagogischer Versager dastehe, der sein Getier mehr lobt als seine Kinder? Weil mich vielleicht das schlechte Gewissen beschleicht, dass ich meine Kinder gar zu wenig liebe?
Alle Pädagogen bläuen einem ein, dass man seine Kinder bestätigen, motivieren, fördern, loben soll, damit sie Selbstvertrauen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Aber bei meinen heute 13 und 16 Jahre alten Kindern geizte ich mit Lob von Anfang an. Und mit Tadel und Kritik war ich schnell bei der Hand, zunächst wohl eher unreflektiert. Aber dann kam es zu diesen Nachmittagen und Abenden, an denen man mit anderen Eltern und deren Kindern zusammensitzt, in der Hoffnung, dass die Kinder miteinander spielen und die Erwachsenen jenen großen Gesprächsbedarf befriedigen können, den junge Paare mit kleinen Kindern haben.
Die Hoffnung wurde zunichte gemacht von Gastkindern, die mit einem selbst gemalten Krikelkrakelbild ankamen und überschwänglich gelobt wurden. Weil sie so gelobt wurden, zogen sie glücklich ab, malten noch ein Krikelkrakelbild und noch eins und noch eins und wurden ein ums andere Mal gelobt, als kündeten ihre Machwerke vom Heranwachsen neuer Picassos, Mirós und Rembrandts. Zwischendurch hatten sie Hunger und Durst, obwohl man zuvor zu Tisch gesessen hatte, aber da hatten sie weder etwas essen noch trinken können.
»Unsere Kinder sind halt sehr spontan«, lobte die Mutter, während ihr vor Rührung schmelzender Blick auf ihren Geschöpfen ruhte. Dann brach ihre fünfjährige Tochter spontan einen sehr lauten Streit mit den anderen Kindern vom Zaun, und die Mutter sagte bewundernd über ihren »kleinen Wildfang«: »Anna kann manchmal wahnsinnig impulsiv sein.« Ihr jähzorniger Bruder zerdepperte eine Vase und wurde gelobt für seine »Power« und sein durchsetzungsstarkes »Ungestüm«, das ihn schon jetzt für eine spätere Führungsposition qualifiziere. Anna klinkte sich ins Gespräch der Erwachsenen ein, unterbrach diese impulsiv nach fast jedem Satz und wurde von der stolzen Mutter als hochinteressanter Gesprächspartner immer wieder einbezogen. Wie interessant Annas Beiträge wirklich waren, konnte aber niemand beurteilen, weil unterdessen ihr durchsetzungsstarker Bruder wegen eines blutenden Knies mit höllischem Geschrei augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf sich zog und man sowieso sein eigenes Wort nicht mehr verstand. So verging der Nachmittag, und so verging der Abend, ohne dass die Erwachsenen je die Chance gehabt hatten, mal zehn Minuten am Stück ein Gespräch miteinander zu führen.
Von jenem Tag an gewöhnte ich mir an, meine Kinder gelegentlich mit den Augen fremder Erwachsener zu sehen, also kritischer, distanzierter, darum manchmal mehr tadelnd als lobend und gelegentlich in die Schranken weisend. Hat es ihnen geschadet? Ich kann keine negativen Spätfolgen entdecken. Hat den gelobhudelten Kindern die kritiklose Bewunderung ihrer Mutter genützt? Ich habe diese Kinder samt Mutter leider aus den Augen verloren.
Meine 16-Jährige kam soeben von einem sechsmonatigen Amerika-Aufenthalt zurück. An der Schule, die sie dort besuchte, herrscht der Geist des »Think positive«. Es wird gelobt, gefördert, motiviert. Es gibt kaum ein Wort der Kritik. Anfangs hat meiner Tochter das gut gefallen, es hat ihr auch geholfen, rasch die Unsicherheit zu verlieren. Aber im Lauf der Zeit habe es sie »zunehmend genervt«, sagt sie, denn auch jeder unqualifizierte Redebeitrag wurde ins Positive gemünzt und mit Beifall bedacht. Eigentlich ging es bei den Wortmeldungen nur darum, wieder einmal gelobt zu werden. Im Unterricht gab es keine Unterschiede zwischen herausragenden und nur mäßigen Leistungen, in den Zeugnissen zur Überraschung der immerzu Gelobten jedoch schon.
Natürlich ist Loben prinzipiell besser als Nörgeln, Schweigen oder gar Verprügeln. Und natürlich gibt es immer noch allzu viele Kinder, die nie ein Mut machendes, aufbauendes Wort des Lobs oder der Bestätigung erhalten. Trotzdem braucht das Lob den Tadel und die Kritik. Ohne gelegentliche Kritik beraubt man die Kinder der Chance, eine der wichtigsten Gaben zu erwerben, die es gibt: die Gabe der Unterscheidung. Ohne Kritik lernt kein Kind das Gute vom Schlechten zu trennen, das Gute vom Bösen, das Schöne vom Hässlichen. Ohne ein ausgewogenes und differenziertes Verhältnis von Lob und Tadel lernt man kein differenziertes Denken, und es fällt schwer, das Gute vom weniger Guten, das Bessere vom Besten zu unterscheiden.
Kinder, die mit einem Krikelkrakelbild daherkommen, wollen zwar gelobt werden, möchten aber ab einem gewissen Alter auch gezeigt kriegen, wie sie ihr Bild verbessern können. Doch das kostet den Erwachsenen Mühe und Zeit, also lobt er das Kind lieber schnell weg ins Kinderzimmer, damit es dort das nächste Bild fabriziert. Dieses lieblose Lob, das Kindern aus purer Bequemlichkeit oder Routine immer nur sagt, wie super, cool, toll sie seien, verhindert deren Entwicklung und macht sie zu Geschöpfen, die ständig zwischen Größenwahnsinn und existenzieller Unsicherheit pendeln. Gedankenlos gelobte Kinder gewinnen keine Maßstäbe, erwerben kein Gespür für die Unterschiede zwischen einem von ihnen gedeckten Tisch, sozialem Engagement, einem Sieg beim Tennismatch und dem Einser-Abitur, zwischen einem freundlichen Wesen, Empathie oder einem aufrichtigen Charakter.
Loben und Tadeln ist eine Kunst. Beides muss zur richtigen Zeit, richtig dosiert, mit den richtigen Worten geschehen. Eigentlich ist das eine in Europa seit mindestens 2000 Jahren bekannte Binsenweisheit, die aber offensichtlich vergessen wurde oder zu selten zur Anwendung kommt. Wie sonst soll ich mir erklären, dass der Handwerker, der gepfuscht hat, sich majestätsbeleidigt fühlt, wenn ich mich über seinen Pfusch beschwere? Warum schneiden deutsche Autos bei den jährlichen Pannentests des ADAC regelmäßig um so viel schlechter ab als japanische Autos? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass in der japanischen Erziehung gedrillt und gezwiebelt wird, während hierzulande viel Wert auf die kreative Entfaltung, aber wenig Wert auf Genauigkeit gelegt wird? Vielleicht hat es auch etwas mit der Abschaffung des Faches Schönschreiben zu tun und der allenthalben vorhandenen Bereitschaft, Halbgares, Unfertiges und schlampig Hingerotztes zu akzeptieren. Das wäre noch hinnehmbar, wenn dann wenigstens die Patentstatistik der »kreativen Deutschen« haushoch über der Statistik der »gedrillten Japaner« stünde. Tut sie aber nicht.
Die Steigerung des Lobs ins Groteske erleben wir im Fernsehen. Da tritt täglich der Moderator aus dem Dunkel ins Rampenlicht, und das Publikum im Studio trampelt vor Begeisterung mit den Füßen und johlt und klatscht so ekstatisch, als sei der Messias erschienen. Fehlendes Qualitätsbewusstsein ist vermutlich die schlimmste politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Folge der Allgegenwärtigkeit von Lobhudelei und Abwesenheit von Kritik. Dass das Seichte der Quotenbringer und das Anspruchsvolle der Quotenkiller ist, dass Kitsch, hässliche Möbel und Fastfoodketten höhere Umsätze erzielen als Kunst, schöne Möbel und gute Restaurants, das alles liefert einen starken Hinweis für die Vermutung, dass es in Elternhäusern und Schulen zu viel Lob, zu viel Gleichgültigkeit, zu wenig Kritik gibt. Kann sich das der im globalen Wettbewerb stehende Wirtschaftsstandort Deutschland leisten?
Nicht einmal die Kunst bleibt davon verschont. »An das Nichtmalenkönnen werden, seit es eine eigene Kunstform geworden ist, immer höhere Anforderungen gestellt«, hatte dazu einst der Publizist Siegfried Kracauer bemerkt. Vermutlich hatte der Dichter und Zeichner Robert Gernhardt diese feine Bosheit im Sinn, als er schrieb, dem Achtzigerjahre-Werk von Georg Baselitz könne man »monumentale Einfachheit oder schlichte Unbedarftheit nachsagen«, und man dürfe raten, wofür er, Gernhardt, sich entscheide. Immer, wenn er bei seinen regelmäßigen Besuchen im Frankfurter Städel an Baselitz’ großem »Adler« vorbeikommt, sehe er zugleich den Maler vor sich, »wie er mit seinem fertigen Bild zu seiner Bezugsperson läuft« und stolz verkündet: »Georg hat Gackgack malt!«Anerkennend streiche ihm die Bezugsperson über den Kopf, »als auch schon die unvermeidliche Frage kommt: ›Und was soll Georg jetzt malen?‹
›Mal doch noch einen Gackgack!‹
›Au ja!‹«