Entstehungsgeschichten

Für die einen ein Schock, der das ganze Leben prägt, für die anderen eine fast normale Erkenntnis: Vier Menschen erzählen, wie sie erfuhren, dass sie Kinder anonymer Väter sind – und welche Fragen sie seitdem bewegen.

Die Bilder auf dieser und den nächsten Seiten stammen aus »Die Geschichte unserer Familie«, dem ersten deutschsprachigen Aufklärungsbuch für Spender-Kinder, verfasst von der Familientherapeutin Petra Thorn, erschienen im FamART Verlag.
»Bin ich dann überhaupt echt?«
Eines Abends, ich war zehn Jahre alt, saß meine Mutter bei mir am Bett, um Gute Nacht zu sagen. Wir kamen irgendwie darauf zu sprechen, wer von wem die Augen hat oder die Nase, was die Tante vom Opa hat und so weiter. Ich muss dann gesagt haben: »Komisch, dass ich dem Papa gar nicht ähnlich sehe.« Meine Mutter wurde still. Sie und mein Vater hatten sich längst entschieden, mir zu sagen, dass ich aus einer Samenspende stamme. Sie hatten nur auf den richtigen Augenblick gewartet. Und jetzt war er da. »Weißt du, das hat seinen Grund«, sagte sie, »dein Papa kann keine Kinder zeugen. Er liebt dich, aber rein biologisch ist er nicht dein Vater.«

Ich war völlig durcheinander. Ich wusste, dass man einen Mann braucht, um ein Kind zu zeugen. Und mich gab es ja nun mal. Mama sagte, dass ein fremder Mann seinen Samen gespendet hat. Ich wollte sofort alles über ihn wissen. Wie sieht er aus? Wie heißt er? Hat er auch Kinder? Weiß er überhaupt, dass es mich gibt? Mama erklärte mir, dass Papa und sie nichts über den Spender wüssten, dass sie unterschrieben hätten, nicht nachzuforschen, wer er sei. Sie sagte, eine anonyme Samenspende sei die einzige Lösung gewesen. »Aber bin ich dann überhaupt echt?«, fragte ich. »Natürlich, du bist ein normales Kind eines Mannes, von dem wir nicht wissen, wie er heißt«, sagte sie. »Dann nenne ich ihn Heinrich«, sagte ich. Meine nächste Frage war: »Warum erfahre ich es erst jetzt?«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Die Ärzte waren so lange verständnisvoll, bis ich sagte, ich wolle wissen, wer mein Vater ist.«)

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Meine Mutter sagte, dass niemand wisse, in welchem Alter man das einem Kind sagen sollte. Bisher hätte sie mich für zu jung gehalten. »Von wegen«, dachte ich, ich fand mich ja schon ganz schön alt, und: »Das muss ich meiner besten Freundin erzählen! Wer weiß es denn schon?« Meine Mutter sagte, sie hätten es nur ganz wenigen gesagt, ich dürfte es aber natürlich jedem erzählen, den ich wirklich gut kenne.

Mit meinem Vater habe ich zwar über die Samenspende gesprochen, aber nie darüber, was das eigentlich für ihn bedeutete. Obwohl mich das sehr interessieren würde. Ich glaube, es fällt ihm schwer, darüber zu reden. Ich habe nie ausgesprochen, dass er mein Vater bleibt, das stand für mich nicht in Frage.

Aber mit der Zeit wurde mir auch immer klarer: Ich will wissen, wer Heinrich ist. Ich erhoffe mir keinen Ersatzvater, ich habe einen Vater. Trotzdem, da ist einfach eine Lücke, die ich schließen möchte. Im Mai dieses Jahres fuhr ich in die Klinik in Essen und sagte: »Hallo, ich bin vor 23 Jahren hier entstanden.« Die Ärzte waren so lange verständnisvoll, bis ich sagte, ich wolle wissen, wer mein Vater ist. Der Arzt, der meine Eltern damals behandelte, meinte, ich hätte ja einen sozialen Vater, es sei doch alles in Ordnung.

Ich verstehe, dass die Ärzte in einer blöden Situation sind. Von der einen Seite drängt die erste Generation von Spender-Kindern. Auf der anderen Seite stehen die Spender, denen Anonymität versprochen wurde. Aber die Zeiten haben sich geändert. Das Recht auf Kenntnis der Herkunft steht seit 1989 sogar im Gesetz.
Ich finde, die Ärzte könnten jetzt als Mittler auftreten. Und in Zukunft sollten sie mit den Spendern auch über Verantwortung sprechen und nicht nur hundert Euro hinlegen. Ich will nicht anklagen, ich will nur, dass die Bedürfnisse aller Betroffenen anerkannt werden. Es macht mich wütend und traurig, wenn ich merke, dass die verantwortlichen Ärzte meinen Wunsch nicht ernst nehmen. Ich möchte wissen, wer mein Erzeuger ist. Anne, 23 Jahre 

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Gott sei Dank habe ich von meinem Vater keine Gene, dachte ich mir.«)

»Zum Glück sind wir nicht deine Kinder«
»Ich wünschte, Papa wäre nicht mein Vater!«, sagte ich zu meiner Mutter, nachdem die beiden wieder einmal einen schlimmen Streit gehabt hatten, wegen der Alkoholprobleme und einer Affäre meines Vaters. Und weil Mama mich so komisch ansah, sagte ich noch: »Wenn es so ist und du es mir nicht sagst, dann verzeihe ich dir das nie!«

Ein paar Minuten später kam Mama mit meiner Schwester Janice, sie war damals zwölf und ich 15, in mein Zimmer. Dort sagte sie uns beiden, dass nicht unser Vater unser Erzeuger sei, sondern ein anonymer Samenspender. Derselbe bei uns beiden.
Ich war erst mal total erleichtert. Gott sei Dank habe ich von meinem Vater keine Gene, dachte ich mir. Suchtanfälligkeit soll ja vererbbar sein, ich hatte Angst, dass ich auch Alkoholiker werden könnte. Seltsam war, Papa wusste ein paar Wochen lang nicht, dass Mama uns aufgeklärt hatte. Er erfuhr es erst, als meine Mutter herausfand, dass er seine Geliebte immer noch traf, obwohl er geschworen hatte, sie nicht mehr zu sehen. Die beiden stritten im Wohnzimmer, und meine Schwester lief wütend runter und brüllte: »Ich bin so froh, dass wir nicht deine Kinder sind!« Er wurde kreidebleich und sah völlig fertig aus.

Wenig später ist er ausgezogen. Wir haben darüber nie gesprochen, aber wir haben seitdem auch kaum mehr Kontakt. Das hat nichts damit zu tun, dass er nicht mein biologischer Vater ist, sondern damit, dass er immer noch trinkt.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »In meinem Kopf war er groß, dunkelhaarig und trug einen weißen Kittel – er war Medizinstudent, das wurde meiner Mutter damals gesagt.«)

Mein Vater bleibt er trotzdem. Ich habe großen Respekt vor seiner Entscheidung, es war bestimmt nicht leicht für ihn, diesen Schritt mit meiner Mutter zu gehen und einen Samenspender zu akzeptieren. Aber er hat uns als seine Kinder angenommen und erzogen – und versucht, uns alles zu bieten, was man seinen Kindern nur bieten kann. Ich bin mir sicher, dass er uns genauso viel Liebe gegeben hat wie jeder andere Vater.

Trotzdem war ich nicht traurig, nicht sein biologisches Kind zu sein. Dafür kam nach einiger Zeit der Wunsch, den Samenspender zu suchen. Ich wollte wissen, wer die andere Hälfte von mir ist, und mit mir vergleichen. In meinem Kopf war er groß, dunkelhaarig und trug einen weißen Kittel – er war Medizinstudent, das wurde meiner Mutter damals gesagt. Ich stellte mir oft vor, wie es wäre, wenn ich die Adresse herausfinden und bei ihm klingeln würde. Ich hatte immer Angst, dass er mich nicht sehen möchte. Vielleicht wollte er damals ja nur schnell ein bisschen Geld verdienen und dabei anonym bleiben. Ich weiß aus dem Internet, dass es anonyme Spender gibt, die ihren Namen hinterlegt haben, falls das Kind Kontakt aufnehmen möchte. Mein biologischer Vater hat das nicht getan.

Inzwischen möchte ich ihn gar nicht mehr kennenlernen. Ich habe verstanden, dass ich Glück habe: Ich bin ein sehr gewolltes Kind. Gewollter geht es eigentlich nicht mehr, wenn man sich mal den ganzen Aufwand einer künstlichen Befruchtung per Samenspende ansieht.

Über meinen biologischen Vater weiß ich, dass er der Mensch ist, der mir gemeinsam mit meiner Mutter das Leben geschenkt hat. Und eben, dass er Medizin studiert hat. Mehr muss ich nicht wissen über ihn. Dominique, 18 Jahre

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Ein Jurist setzte einen Brief an meine Eltern auf. Ich wollte wissen, wer mein Vater war, wenn nötig durch eine Klage.«)

»Mir wurde ein Teil von mir weggerissen«
Ich bin 33 und habe erst im Mai dieses Jahres erfahren, dass ich aus einer Samenspende stamme. Vor drei Jahren bekam ich selbst ein Kind, und im Mutterpass stand meine Blutgruppe: AB. Ich war verwirrt. Ich wusste, dass meine Mutter A hatte, und war mir relativ sicher, im Blutspenderausweis meines Vaters die Blutgruppe 0 gesehen zu haben. Erst redete ich mir ein, ich könnte mich verschaut haben. Dann, ich sei vielleicht ein Blutgruppen-Sonderfall. So verdrängte ich das Thema fast drei Jahre.

Anfang Mai hielt ich es nicht länger aus, gab »Blutgruppenvererbung« bei Google ein und erfuhr, dass aus A und 0 nie AB werden kann. Das B muss irgendwo herkommen. Also kein Sonderfall.

Ich schrieb meinen Eltern eine SMS und fragte nach ihren Blutgruppen. Sie antworteten nicht. Ich rief an – ich weiß noch, dass meine Stimme zitterte und ich wütend darüber war –, aber meine Mutter legte auf. Okay, dachte ich, bin ich wohl ein Seitensprung-Baby. Ein Jurist setzte einen Brief an meine Eltern auf. Ich wollte wissen, wer mein Vater war, wenn nötig durch eine Klage.

Zwei Wochen später erhielt mein Anwalt Post vom Anwalt meiner Eltern: »Auch wenn es bis zum heutigen Tage keinen Moment gab, an welchem Herr K. Ihre Frau Mandantin nicht als seine Tochter anerkannte und liebte, bleibt festzustellen, dass es sich tatsächlich bei ihm nicht um den biologischen Vater handelt.« In dem Brief stand weiter, dass ich das »Ergebnis« einer donogenen Insemination sei, durchgeführt im März 1974 von einem Dr. Mutke in München. Dass es nur einen Arztbesuch gab, meine Mutter schwanger wurde, das Honorar bar bezahlt und dass meine Eltern somit »dem Feststellungsinteresse ihrer Tochter ausreichend nachgekommen« seien.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Gerade versuche ich, an deren Jahrgangsbände von 1974 zu kommen. Dann wären 500 Männer im engeren Kreis. Wenn da fünfzig dabei sind, die ein bisschen dunkel aussehen, dann besuche ich die alle.«)

Bis heute sind meine Eltern nicht bereit, mit mir zu sprechen. Bis heute kam kein erklärender Brief, warum sie mir nicht gesagt haben, woher ich komme. Ich weiß: Früher dachte man, niemand müsste den Kindern sagen, dass sie aus einer Samenspende stammen. Heute gibt es Vaterschaftstests. Außerdem weiß man inzwischen, dass ein solches Geheimnis Familien auseinanderreißen kann. Und Menschen. Mir wurde mitten im Leben ein Teil von mir weggerissen. Ich war völlig fertig. Wochenlang wollte ich nicht aufstehen, essen oder irgendetwas anderes tun.

Dann fing ich an, meinen biologischen Vater zu suchen. Jener Dr. Mutke war schon gestorben, und seine Exfrau wusste nur, dass die Spender immer abends durch eine Hintertür in die Praxis kamen. Ein Kollege Mutkes meinte, dieser selbst habe oft gespendet; bei meinen dunklen Augen würde er aber eher auf einen persischen Medizinstudenten tippen. Eine ehemalige Sprechstundenhilfe Mutkes erzählte mir, er sei im Zweiten Weltkrieg Jagdflieger gewesen und habe Spender nur aus »seinen Reihen« genommen: aus dem Bundeswehr-Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck.

Gerade versuche ich, an deren Jahrgangsbände von 1974 zu kommen. Dann wären 500 Männer im engeren Kreis. Wenn da fünfzig dabei sind, die ein bisschen dunkel aussehen, dann besuche ich die alle. Ich finde meinen Vater.

Auch wenn ich inzwischen damit leben könnte, ihn nie zu finden. Ich stehe wieder fest und sicher auf dem Boden. Das verdanke ich vor allem meinem kleinen Sohn, dem es völlig egal ist, wer sein biologischer Opa ist. Sibylle, 33 Jahre

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Beim nächsten Mal will ich wieder so auf die Welt kommen.«)

»Vielleicht ist der Mann da mein Vater?«
Ich erfuhr mit fünf Jahren, wie Babys entstehen und dass es bei mir ein bisschen anders lief. Dass meine Mama nicht mit einem Mann geschlafen hat, sondern ein Arzt ihr den Samen gegeben hat, den ein fremder Mann gespendet hat. Und dass sie darüber sehr glücklich ist. Ich habe das damals verstanden, jedenfalls so, wie man es als Fünfjährige eben verstehen kann. »Beim nächsten Mal will ich wieder so auf die Welt kommen«, sagte ich zu meiner Mutter und wollte erst mal gar nicht mehr wissen. Klar war: Ich hatte keinen Papa, der bei uns wohnt, und das war nicht weiter schlimm.

Wenn mich in den nächsten Jahren andere Kinder nach meinem Vater fragten, erfand ich nie Ausreden oder Lügen. Ich sagte immer geradeheraus: Ich weiß nicht, wer mein Vater ist und wo er lebt. Die meisten haben mich dann komisch angeschaut, aber das hat mich wohl nicht gestört. Als ich sieben war, entschieden meine beste Freundin und ich, dass wir auch so Kinder bekommen wollten. Das war etwas Besonderes.

Je mehr ich über Kinderkriegen und Sexualität lernte, umso klarer wurde in meinem Kopf das Bild davon, wie ich entstanden bin. Ungefähr mit zwölf Jahren wollte ich dann wissen, wer dieser Mann ist, der seinen Samen für mich gespendet hat. Meine Mutter erzählte mir dann die wenigen Sachen, die sie wusste: dass der Spender gesund, intelligent und – nach dem gängigen Schönheitsideal – gut aussehend sei. Das war alles, was der Arzt ihr sagte.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Kinder müssen das Recht haben, in einem zentralen Register nachzuforschen, ob sie aus einer Samenspende stammen, und wenn ja: wer ihr biologischer Vater ist.«)

Später versuchte meine Mutter, doch noch mehr herauszufinden, aber inzwischen war der Arzt verstorben und sein Nachfolger hatte keine Unterlagen übernommen. Wenn ich mir ausmalte, wie mein biologischer Vater aussehen könnte, orientierte ich mich an meiner Mutter: Was unterscheidet mich von ihr? Was könnte ich demnach von ihm haben? Also stellte ich ihn mir eher kleiner, blond und blauäugig vor. Früher dachte ich dann, wenn ich auf der Straße jemanden sah, der diesem Bild irgendwie entsprach: Vielleicht ist der Mann da mein Vater.

In der Pubertät war ich manchmal wütend, weil ich anders war, weil ich nicht wusste, wer mein Vater ist. Und machte meiner Mutter Vorwürfe. Warum sie nicht hinter der Tür auf den Spender gelauert hat, beim Arzt. Absurd. Dabei bin ich total stolz auf meine mutige Mutter. Sie wollte ein Kind, aber nicht mit einem Mann. Sie wollte auch keinen Mann instrumentalisieren. Das finde ich ehrlich.

Dank ihr habe ich ein anderes Familienbild als die meisten Menschen. Für mich hat Familie weniger mit Genen zu tun als mit Verantwortung. Und ich habe eine tolle Familie.

Trotzdem sollten sich die Regeln der Samenspende ändern. Es sollte keine anonymen Spenden mehr geben. Kinder müssen das Recht haben, in einem zentralen Register nachzuforschen, ob sie aus einer Samenspende stammen, und wenn ja: wer ihr biologischer Vater ist. Beide Seiten sollten vor Unterhaltszahlungen geschützt werden, und Eltern sollten unbedingt eine Pflichtberatung bekommen, damit sie erfahren, wie wichtig es für das Kind ist, die Wahrheit zu erfahren. So früh wie möglich. Zum Beispiel mit fünf, auch wenn man vielleicht nicht alles sofort versteht. Dana*, 23 Jahre

*Name von der Redaktion geändert