Susann wird den erschrockenen Blick der Ärztin nie vergessen, als sie ihre Mutter endlich überredet hatte, sich untersuchen zu lassen: Der Lungenkrebs hatte gestreut, Metastasen waren in Gehirn, Niere, Unterleib. Trotzdem entließ sich ihre Mutter Evelyne Lang nach zwei Wochen selbst aus dem Lungenkrebszentrum in Berlin, wo sie Waschen, Füttern, Wickeln verweigert hatte. Zu Hause in ihrer Wohnung kümmerten sich ihre Töchter um sie, damals, 2018, lebten beide noch in Berlin. Sie versuchten, ihrer Mutter Wasser mit einem Strohhalm einzuflößen. Es lief ihr aus dem Mund. Die Töchter googelten: »Wie stirbt ein Mensch?« Zwei Wochen dauerte ihr Todeskampf. Als das Pflegebett endlich geliefert wurde, setzte ihre Atmung aus. Sie wurde 70 Jahre alt.
Für ihr Urnengrab auf dem Friedhof wünschten sich die Schwestern etwas Besonderes, einen großen Findling oder ein Herz aus weißem Marmor, das von Pflanzen umrankt werden sollte. Doch die Bestatter und Steinmetze rund um den Friedhof schlugen ihnen nur klassische Rechtecke aus dunklem Granit vor. Das hätte ihrer Mutter nicht gefallen. Sie war Kosmetikerin, liebte alles, was dekorativ war, stellte an Ostern ihre Hasenfamilie auf, sammelte Porzellan und Kristall. Ihr Traumort war Karlsbad in Tschechien, aber weiter als bis Binz an der Ostsee hatte sie es nicht geschafft.
Nach der Bestattung im September 2018 baten die Schwestern die Friedhofsleitung, selbst einen Grabstein suchen und auf das Grab legen zu dürfen. Das ist dort nur bei kleinen und liegenden Steinen für Urnengräber möglich. »Vielleicht war die Suche nach dem Stein meine Art, mit dem Tod meiner Mutter fertigzuwerden«, sagt Susann.
Erst im Februar 2020, eineinhalb Jahre nach der Bestattung, fand sie den Stein bei einem Steinmetz in Hamburg, wo sie inzwischen hingezogen war: ein Herz aus Marmor, dick und kugelig, die Kanten und die Rückseite roh und unbehandelt. Das gefiel ihr, das war besonders. Weil das Herz nicht ganz symmetrisch gearbeitet war, machte der Steinmetz einen guten Preis. Für die Schwestern bedeuteten schon die 5000 Euro für die Bestattung viel Geld: das Einäschern, die Grabmiete für 25 Jahre, die Gospel-Sängerin, der Leichenschmaus bei einem Italiener. Nicole, 52, war im Verkauf tätig. Jetzt orientiert sie sich um. Ihre Schwester Susann, 48, war bis zur Geburt ihrer Tochter vor vier Jahren bei einer Fluglinie, ihre Elternzeit endet bald, doch wegen der Kurzarbeit wird ihr Arbeitsverhältnis weiter ruhen. Ihr Mann ist Lehrer an einer Grundschule in Hamburg. Die Schwestern nennen einander »Ditti« und »Sue«, wie in Kindertagen.
Susann brachte den Stein von Hamburg nach Berlin. Dort fuhr ihn Nicole zum Gravieren: Nur drei geschwungene Buchstaben aus Blattgold, »Evi«. Auf den Nachnamen verzichteten die Schwestern, der zweite Mann ihrer Mutter, von dem sie geschieden war, dessen Namen sie aber noch getragen hatte, habe die Mutter zu schlecht behandelt. Wegen der Corona-Pandemie dauerte es einige Wochen, bis Nicole den Grabstein abholen konnte. Am Nachmittag des 23. Juni 2020 fuhr Nicole mit dem gravierten Grabstein zu ihrer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf.
Dachten betrunkene Jugendliche, es sei lustig, einen Grabstein im Zimmer zu haben?
Für den nächsten Tag waren die Schwestern in Berlin verabredet. Fast zwei Jahre nach der Bestattung wollten sie den Stein endlich auf das Grab legen. Abgestützt mit einem anderen Stein sollte er ein wenig nach hinten gekippt in der Ecke oder der Mitte des Grabes stehen. Doch dann stand Nicole am Morgen vor ihrem Auto: das Rückfenster zertrümmert, Scherben überall, der Grabstein weg. Sie hatte ihn im Fußraum hinter dem Fahrersitz mit einer Aldi-Tüte verdeckt über Nacht im Auto gelassen, weil sie im fünften Stock ohne Aufzug wohnt. »Die haben den Grabstein unserer Mutter aus dem Auto gestohlen!«, rief Nicole ins Telefon. Ihre Schwester, die gerade im Bahnhof einfuhr, schrie: »Das ist jetzt nicht wahr! Wer klaut denn einen Grabstein aus dem Auto?«
Ja, wer macht so etwas? Auch die Polizisten hatten noch nie von so einem Fall gehört. Sie suchten die Gegend ab, in der nicht oft in Autos eingebrochen wird. Obendrein stand das Auto auf dem Parkplatz der Deutschen Rentenversicherung, ein großes, beleuchtetes Gebäude.
Die Schwestern entwickelten Theorien, wer den Grabstein gestohlen haben könnte, die Polizei auch: Vielleicht hatten es die Diebe auf den Kasten Leergut abgesehen, der auf dem Rücksitz stand und ebenfalls weg war – 3,50 Euro. Und das Handschuhfach war durchwühlt. Vielleicht hatte der Dieb den Stein nur zufällig entdeckt? Aber wer schleppt so ein schweres Ding von 30, 40 Kilo mit? Oder sahen betrunkene Jugendliche das aufgebrochene Auto und dachten, es sei lustig, einen Grabstein im Zimmer zu haben? Vielleicht ging es auch um das Blattgold der Inschrift. Diebstähle von Metallen kommen in Berlin oft vor, erklärte die Polizei.
Die Schwestern hängten Zettel aus: »Der Grabstein unserer Mutti wurde entwendet. Wir können uns nicht erklären, wer so etwas tut«, und baten um Hinweise. Nichts.
Die Fahndung wurde nach sechs Monaten eingestellt. Keine Versicherung ersetzte den Stein. »Was machen wir jetzt?«, fragte Nicole ihre Schwester. »Wir machen das Grab trotzdem irgendwie schön«, antwortete die.
Mit der Suche nach dem Stein versuchte Susann auf eine fast technische Art, mit dem Tod ihrer Mutter umzugehen: die vielen Besuche bei den Steinmetzen, die Verhandlungen mit der Friedhofsleitung. Ihre Schwester tickt anders, sie hat ihre 48-Quadratmeter-Wohnung in Berlin wie einen Schrein mit Andenken an ihre Mutter vollgestellt, goldene Rahmen, Porzellan, Kristallkerzenleuchter. In jüngerer Zeit waren viele Menschen gestorben, die den Schwestern wichtig waren: 2007 der Großvater, Krebs, 2010 der Vater, Herzversagen, 2016 die Großmutter, Herzversagen, 2017 Susanns beste Freundin, Krebs. Nun waren die Schwestern allein mit der Beerdigung betraut, weil nur noch sie von der Familie übrig sind.
Irgendwann, wenn es ihre Gefühle zulassen, wollen die Schwestern einen neuen Stein kaufen. Susanns kleine Tochter zeigt in Hamburg oft mit dem Finger aus dem Auto, wenn sie am Steinmetz vorbeifahren, bei dem ihre Mutter das Herz aus Marmor gekauft hat: »Da war der Stein von Omi. Der ist jetzt weg«, sagt sie. Dann denkt Susann wieder: Wer hat nur unseren Grabstein – und warum?
Die Schwestern schmücken das Grab nun auf eine Art, wie es ihre Mutter gemocht hätte: ein Blumentopf in Form eines Schwanes, mit Pflanzen darin. Ein Windlicht an einer Stange, verziert mit Schmetterlingen aus Stahl. Ein herzförmiges Körbchen aus Metall mit Trockenblumen. Ein kleiner Steinengel. Drei Grabkerzen, eine davon in Herzform. Ein Vogelhaus, ihre Mutter liebte Vögel. Und weiße Kiesel wollten sie ausstreuen, aber das erlaubt die Friedhofsordnung nicht.
An einem Donnerstag im Februar 2021 ist Susann wieder mit einem Körbchen Primeln und Narzissen zum Friedhof unterwegs. Sie findet das Grab sofort, obwohl es geschneit hat. Noch immer gibt es keinen Grabstein, kein Holzkreuz, nur ein kleines Steinschild mit der Grabnummer und ein Foto der Mutter, eingeschweißt in Plastikfolie, aufgestellt in einem herzförmigen Kästchen. Mit den Unterarmen räumt Susann den Schnee zu Seite. Sie stellt die Grabkerzen wieder ordentlich auf, zupft die Pflanzen im Porzellanschwan zurecht, säubert den Steinengel, stellt die Primeln in die obere Ecke des Grabes. Ihr Blick sucht das Grab ab. »Das Vogelhaus, wo ist das Vogelhaus? Jetzt ist auch noch das Vogelhaus weg!«, ruft sie. Dann stellt sie die Primeln in die Mitte des Grabes, sieht doch eh besser aus.