Einmal habe ich zu viel riskiert, beim Eisklettern in den Dolomiten – vielleicht war das sogar Übermut. Ich hab eine ziemlich schwere Route versucht, die »Illuminati« im Langental. Das ist derzeit die schwierigste Eiskletterroute der Welt; beim Abstieg bin ich eine 300 Meter lange, 50 Grad steile Schneerinne runtergefallen. Ich hab das Eis nicht gesehen, es hat mir einfach die Füße unter dem Arsch weggezogen. Auf Eis fühlt sich ein Sturz schon ab 25 Grad an wie freier Fall. Man hat keine Reibung und wird brutal schnell! Ich war völlig ohne Kontrolle, der Schnee flog um mich herum, ich wusste nicht, wo oben und unten ist, keine Ahnung, wie oft ich mich überschlagen hab. Ich dachte zum ersten Mal: Jetzt gehst du drauf. Am Ende der Rinne waren Bäume und Steine, da bin ich einfach reingerauscht. Ein Aufprall, wie wenn man mit dem Auto mit 150 Stundenkilometern in einen Wald brettert! Aber mir ist so gut wie nix passiert, nur ein Innenband ist gerissen.
Ich bin seit diesem Erlebnis zum Glück nicht ängstlicher. Wie sollte ich sonst noch auf einen Berg hochkommen? Dennoch glaube ich nicht, dass ich mehr Mut habe als ältere Kollegen, nur weil ich noch jung bin. Beim Klettern und Bergsteigen ist Disziplin eh noch viel wichtiger als Mut. Wenn man nicht fit ist, bringt man sich um. Ich trainiere viel, das ganze Jahr über. Neun bis zehn Trainingseinheiten in der Woche. Ausdauer, Kraft, meistens mit ein paar Freunden oder meiner Freundin. Trotzdem gibt es am Berg immer wieder Situationen, in denen man plötzlich feststellt, dass man nicht stark genug ist, das ist schrecklich.
Ich fürchte mich vor Lawinen oder Wettereinbrüchen. Auf einer Tour überlege ich ständig, ob es Sinn hat, was ich vorhabe. Oder ob ich mich nicht einfach in etwas verrenne und zu viel riskiere. Mit Mutproben kann ich persönlich überhaupt nichts anfangen. Am Berg schon gleich gar nicht, dafür ist das Bergsteigen viel zu gefährlich. Letztes Jahr wollte ich auf ungefähr 6000 Metern in Pakistan eine Wand hoch. Zuerst hat mich und meinen Kletterpartner fast eine Lawine erwischt und dann sind wir kurze Zeit später in einen Steinschlag gekommen. Ich konnte gerade noch zur Seite ausweichen. Im Basislager hab ich zu meinen Kollegen gesagt: »Ich will da nicht mehr hoch.« Wenn man es zweimal probiert hat, dann geht es vom Kopf her manchmal kein drittes Mal mehr – da macht einem die Vernunft einen Strich durch die Rechnung. Wer weiß, vielleicht ist das Glück irgendwann erschöpft?
Das wohl Mutigste, was ich in meinem Leben bisher gemacht habe, war, dass ich die Schule in der 13. Klasse kurz vor dem Abi abgebrochen habe. Und der Mut war in dem Fall größer als die Disziplin. Jetzt lebe ich vom Bergsteigen und meinen Sponsorenverträgen. Ob meine Eltern das gut finden? Ich weiß es nicht. Sie haben mich schon als kleines Kind in der Kraxe auf den Berg mitgenommen. Und mit zehn hab ich die ersten Hochtouren mit meinem Vater gemacht. Wahrscheinlich dachten beide damals nur: Wir zeigen unserem Buben ein bisschen die Berge – sie hätten sicher nichts dagegen, wenn ich was studieren würde und später einen normalen Job hätte. Vielleicht sind sie aber auch ein wenig stolz auf mich.
Wenn es drauf ankommt, würde ich mit dem Extrem-Bergsteigen aber aufhören, es ist schließlich nicht alles im Leben! Zum Beispiel wenn ich Vierlinge bekommen würde und Geld verdienen müsste, mehr als jetzt, würde ich statt zu klettern andere Leute auf Berge führen – auch wenn das nicht so eine große Herausforderung ist.
Manchmal hat meine Freundin Angst um mich. Sie sagt es mir auch, aber nicht so oft, wie sie sich vermutlich um mich sorgt, wenn ich auf Touren gehe. Andererseits: Sie kennt mich und weiß genau, wie sehr ich am Leben hänge. Ich hab überhaupt keine Lust zu sterben. Trotzdem muss ich natürlich was riskieren.
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Michael Wohlleben
Profibergsteiger, 19 Jahre, lebt in Künzelsau-Gaisbach in Baden-Württemberg. Kurz vor dem Abitur brach er die Schule ab, um sich ganz auf das Bergsteigen und Klettern zu konzentrieren. Er lebt von Sponsoren und Diavorträgen.
Foto: Alexandra Kinga Fekete